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Kapitel 20: Überraschender Besuch (Bis in die tiefsten Ozeane)

Gibbli wachte einige Stunden später auf den weichen Kissen in ihrer Hängematte auf. Ihr Bein tat kaum noch weh. Jemand hatte es geschient und einen Verband um ihren Oberschenkel gelegt. Abyss saß im Halbdunkeln auf dem Boden und lehnte an einer Maschine. Das Glühen der schwebenden Sonnenstücke spiegelte sich schwach auf seinem blassen Gesicht und den hellen Haaren wieder. Es musste mitten in der Nacht sein.
Als er bemerkte, dass sie nicht mehr schlief, fing er an zu lächeln. „Hey.“
„Hat Sky wirklich noch den MARM gesteuert?“, war die erste Frage, die ihr durch den Kopf schoss.
„Er bestand darauf. So wie der getaucht ist, kann ich mir vorstellen, dass er das Teil selbst im Schlaf steuern könnte. Unser Kapitän ist wirklich gut darin, das muss ich leider zugeben. Hat sogar noch die Mara aus dem Gebiet der Tiefseemenschen herausmanövriert. Wir befinden uns jetzt auf halber Höhe zum Hochseemenschengebiet.“ Abyss legte etwas beiseite und reichte ihr dann eine Schüssel hoch. „Hier. Iss alles auf, das ist eine Anordnung von Bo. Sie wollte dich eigentlich im Krankenlabor behalten. Aber ich dachte, du wärst vielleicht lieber hier unten.“
Gibblis Augen leuchteten auf. Essen! Sie richtete sich auf, kämpfte einen kurzen Schwindelanfall nieder und begann dann die Gemüsesuppe in sich hinein zu löffeln. Obwohl die Brühe bereits kalt war, fühlte es sich dennoch so an, als wäre das die leckerste Suppe ihres ganzen Lebens! Einen Moment lang spürte sie Abyss‘ zufriedenen Blick auf sich ruhen, dann griff er wieder nach seinem Lappen und fuhr mit seiner Tätigkeit fort, irgendetwas zu polieren. Nach einer Weile fiel Gibblis Blick auf seinen Koffer, der geöffnet neben ihm am Boden lag und dann auf das Gerät in seinen Händen. Es bestand aus Holz, das an einem Ende kunstvoll gebogen war. Darüber spannten sich vier Stahlsaiten. An einigen Stellen blätterte der Lack bereits ab und es wirkte sehr alt. Die hohe Luftfeuchtigkeit unter dem Meer schien dem Instrument stark zuzusetzen.
„Eine Geige?“, fragte sie erstaunt.
„Dachtest wohl, ich schleppe eine Waffe mit mir rum?“
Gibbli blickte beschämt auf ihr Essen. Das erklärte die seltsamen Geräusche, die sie vor Kurzem aus der Tauchkapsel wahrgenommen hatte. Sie wusste zwar, was eine Geige war, an der Akademie gab es freiwillige Kurse, in denen man verschiedene Instrumente lernen konnte, allerdings hatte sie nie einen davon besucht. Sie hätte auch nie erwartet, dass Abyss Musik spielte.
„Schusswaffen sind was für Feiglinge“, fuhr er fort, während er das Instrument mit dem Lappen behutsam weiter abwischte. „Wie Sky.“
Gibbli grinste kurz und löffelte schweigend ihre Suppe weiter. Nach allem, was sie erlebt hatten, konnte er die Sticheleien gegenüber ihrem Kapitän noch immer nicht lassen.
„Der Mönch schenkte sie mir, kurz nachdem er mich aufnahm“, sagte Abyss nach ein paar Minuten und Gibbli verschluckte sich fast. Er sprach ruhig weiter. „Vielleicht dachte er, damit kann er mich beschäftigen und von Dingen abhalten, die es besser wäre, nicht zu tun.“
Vorsichtig blickte sie auf. „Hat ... wohl nicht so ganz funktioniert.“
„Oh, doch. Besser als er wahrscheinlich ahnte“, meinte Abyss wehmütig und begann die Geige wieder im Koffer zu verstauen. Gibbli erschauderte. Er war ein skrupelloser Mörder. Wenn er jetzt schon Leute umbrachte, was würde er wohl ohne die Musik im Stande sein zu tun? „Es ... hilft mir, die Kontrolle nicht zu verlieren. Eines Tages wird diese Geige die stärkste Macht unter dem Meer sein.“
Das wäre wirklich schön, dachte Gibbli. Sie stellte sich vor, wie all die Soldaten statt ihren Strahlern mit verschiedensten Instrumenten ausgerüstet wurden und statt zu schießen, einfach Musik spielten.
Abyss kam näher, nahm ihr die leere Suppenschüssel ab und stellte sie beiseite. Dann setzte er sich direkt vor ihre Hängematte. „Lass uns reden, Gibbli.“
Gibbli ließ ihre Schultern hängen. Unsicher blickte sie auf ihre Finger, nicht so recht wissend, was sie mit ihren Händen machen sollte. In Büchern folgte nach solchen Sätzen immer ein sehr unangenehmes Gespräch. Sie spürte seinen stechenden Blick auf sich ruhen und ließ sich zurück auf die Kissen ihrer Hängematte fallen, um ihn nicht ansehen zu müssen. Stattdessen starrte sie an die niedrige Decke nach oben. Sicher wollte er über den Mönch sprechen. Aber Gibbli irrte sich.
„Erzähl mir von Steven.“
Überraschtes Schweigen breitete sich aus. Was sollte sie über dieses Monster erzählen? Nach einer Weile wurde ihr klar, dass Abyss noch immer vor ihr saß und etwas auf seine Aufforderung erwartete.
„Du bist ihm doch schon begegnet“, sagte sie leise.
„Ich stieß ein paar Mal mit ihm zusammen, ja. Aber nachdem was Sky mir erzählte, verhält er sich dir gegenüber anders. Beschreib ihn mir.“
Sie dachte einen Moment nach und versuchte, sich an die erste Begegnung mit ihm im Zug zu erinnern. Wahrscheinlich hatte er sie dort nicht einmal gesehen. Dennoch hatte er Gibbli gespürt und war sich ihrer Gegenwart sofort bewusst gewesen.
„Ich fühle es, wenn er in der Nähe ist, noch bevor er sich zeigt. Alles wird kalt und ich beginne zu frieren.“
„Du strahlst diese Kälte auch manchmal aus.“
„Und fürchtest du dich vor mir?“, fragte Gibbli in die Dunkelheit.
„Nein“, antwortete Abyss. „Aber ich hab auch keine Angst vor Steven.“
„Also hältst du mich für schwach?“
„Nein. Du hast vor vielen Dingen Angst, die andere als selbstverständlich betrachten. Dennoch schaffst du es in manchen Situationen klar zu denken, wenn andere sich längst tot glauben.“ Er hielt kurz inne. „Ich bin dafür, wir bringen Steven einfach um. Fertig.“
Gibbli schwieg. Ja, das war eine hervorragende Idee. Warum wollte Abyss Stevens Auftreten überhaupt bis ins kleinste Detail besprechen? Das sah ihm gar nicht ähnlich.
„Aber der Kapitän befahl mir, mit dir darüber zu reden. Als würde er sich um dich sorgen. Es bringt nichts, solche Dinge zu zerdenken. Er ist der Meinung, dass Steven dazu im Stande ist, mit deinen Gefühlen zu spielen, allein mit seinen Gedanken. Nun, Stevens Verhalten dir gegenüber ... er hat dich ja bedroht, oder? Ich kann mir vorstellen, dass sowas einem vielleicht einen Schrecken einjagt. Weißt du, ich glaub, Sky ist nur so lange um dein Wohlergehen besorgt, bis wir in Ocea sind. Er ist wie besessen von dieser Stadt! Ich weiß nicht, was ihn antreibt, aber ich bin mir sicher, sobald er sein Ziel erreicht, wird es ihn einen Dreck interessieren, was Steven mit dir vor hat.“
Gibbli spürte Abyss‘ Zorn. Einen Moment überlegte sie, ob er vielleicht genauso dachte. Was er allerdings dann sagte, ließ ihr Misstrauen ihm gegenüber verschwinden.
„Ich wollte immer in die goldene Stadt wegen dem Dolch. Das mächtigste Artefakt von allen. Und am höchsten Punkt, in der Mitte der Stadt, liegt der Dolch des Nu. So steht es im Buch Ocea geschrieben.“
„Dieses Buch von Bo?“
„Ja. Es gibt nicht viele Abschriften davon. Der Mönch besaß ebenfalls ein Exemplar. Es stammt von einem Tiefseemenschen, wusstest du das?“ Er hielt kurz inne. „Aber Gibbli, vergiss das Buch und den Dolch. Wir könnten uns jetzt einfach den MARM schnappen und fliehen. Wir müssen nicht dort hin. Wir verstecken uns und die anderen werden uns nie finden.“
Überrascht richtete sie sich auf. Meinte er das ernst? Er, dem ständig langweilig war und von einem Abenteuer ins nächste stolperte? Er, der Mann, der das Risiko liebte, von Gefahren scheinbar magisch angezogen wurde und sich nirgendwo heraushalten konnte, bot ihr an, einfach abzuhauen?
„Du bist wichtiger“, sagte er leise.
Sie suchte sein Gesicht in der Dunkelheit. Abyss‘ graue Augen funkelten im schwachen Licht der Sonnenstücke. „Wir müssen Sam retten“, flüsterte sie.
„Du weißt, dass ich erkenne, wenn du lügst.“ Er lächelte und sie fühlte sich ertappt, zwang sich jedoch weiter ihn anzusehen. Irgendwie kam ihr das mittlerweile gar nicht mehr so schwer vor. Wenigstens bei Abyss bekam sie den Drang wegzublicken langsam unter Kontrolle. „Du warst schon immer egoistisch, Gibbli. Vor mir musst du keinen Grund erfinden. Bo und dieser Nox wollen sie retten. Aber dich interessiert diese Sam doch nicht im Geringsten. Gib es zu, das Tauchen hat dich mutiger gemacht.“
„Das ist es nicht.“ Mit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an und schüttelte dann langsam den Kopf. Ihr war ein schrecklicher Gedanke gekommen. Ein Gedanke, der sich falsch anfühlte und dennoch richtig. Sie drängte ihn beiseite und wendete sich beschämt von Abyss ab.
„Mein Angebot steht. Lass es dir durch den Kopf geh‘n“, sagte er noch einmal.

 

Ein paar Stunden später humpelte Gibbli zwar noch, konnte aber bereits wieder fast ohne Schmerzen auftreten. Als sie und Abyss früh am Morgen den Maschinenraum verlassen wollten, stapfte Nox gerade pitschnass aus der linken der beiden Ausstiegsluken. Er hatte sich darin einquartiert, da man sie jederzeit mit Wasser füllen konnte. So musste er nicht durchgehend sein Atemgerät tragen, während er schlief.
„Warst du draußen?“, fragte Abyss.
„Ja“, antwortete Nox knapp und blickte ihn düster an.
„Was ist? Hab ich dir was getan?“, grummelte Abyss.
„Nein.“
„Dann starr mich nicht so an. Du bist komisch.“ Er drehte sich um und wollte in den Gang einschlagen, der nach oben führte.
„Nein“, sagte Nox leise. „U-Boot, das schwimmt draußen direkt neben Mara, das ist komisch.“
Abyss hielt inne und wirbelte herum. „Was? Welches U-Boot?“
„Eckig. Flach.“
„Das könnte zu Jacks Flotte gehören“, rief Gibbli alarmiert.
„Nur eines?“, fragte Abyss.
Nox nickte. „Und es schickte ein Beiboot in unser Hangar.“
„Es ist rein?“ Abyss zog blitzschnell sein Messer und begann die Rampe zur Zentrale hoch zu rennen. „Welcher hirnrissige Narr hat das Hangartor geöffnet?“
Gibbli und Nox folgten ihm. Als sie das Frontfenster erreichten, wehte ihnen von oben eine zornige Frauenstimme entgegen.
Bo stand am runden Tisch mit einem Haufen aus Früchten und schnitt seelenruhig kleine Stücke davon fürs Frühstück ab. Sie strahlte, als die drei an den Konsolen vorbei zu ihr kamen. „Gibbli du bist ja wach! Wie geht ...“
„Was ist da oben los?“, unterbrach Abyss sie.
Bo lachte gezwungen auf, warf einen nervösen Blick zur Rampe, die nach oben führte und begann schnell zu sprechen. „Sie streiten! Der Kapitän und diese Frau. Die ist vor ein paar Minuten aufgekreuzt mit einem einzelnen U-Boot aus der Flotte. Sky schien nicht sehr erfreut sie zu sehen, hat sie aber dann trotzdem reingelassen. Doch dann hat er sie ganz böse angeknurrt, als sie durchs Hangartor kam. Und sie so WÄÄHH“ Bo fuchtelte mit ihren Armen wild gestikulierend in der Luft herum. „Dann hat er sie beschimpft. Und die Frau dann wieder so WAAHHH! Das geht jetzt schon ein paar Minuten so, man versteht kaum ein Wort. Ich glaube, es geht um die Schlacht bei den Hochseemenschen. Oh, ich hoffe, sie machen mir keine von den Pflanzen kaputt!“
„Pflanzen, wie eklig. Ich bevorzuge rohen Fisch.“ Nox ließ seine spitzen Zähne aufblitzen und setzte sich mit verschränkten Armen an den Tisch, als ginge ihn das nichts an. Bo warf ihm einen bösen Blick zu.
Abyss hingegen wandte sich von ihnen ab und stieg die Rampe hoch. Unsicher folgte ihm Gibbli. Oben angekommen streckte er seinen Arm aus, um ihr anzudeuten, nicht näher zu kommen. Gibbli blieb hinter ihm stehen. Sie erblickte Cora, die in einer Ecke umhersprang und aufgeregt in ihre kleinen Hände klatschte, als wollte sie die Streitenden anfeuern. Mitten in der Galerie standen sich zwei Menschen gegenüber und die Frau schrie so laut, dass Gibbli versucht war, sich die Ohren zuzuhalten. Mit Zornesfalten auf der Stirn und zusammen gezogenen Augenbrauen sah Sky aus, als würde er jeden Moment zuschlagen. Gibbli hatte ihn noch nie so wütend erlebt. Obwohl seine Worte oft einen befehlenden Unterton aufwiesen und er sie immer wieder scharf zurechtwies, blieb er dabei normalerweise ruhig und überlegt. Wenn Gibbli es sich recht überlegte, hatte sie ihn noch nie schreien gehört. Auch jetzt schien er sich zu beherrschen. Nur so bedrohlich, wie er diese fremde Frau anfuhr, trat er seiner Mannschaft gegenüber nie auf.
Der schlanke Körper der Frau bebte. Sie hatte ihre Hände zu Fäusten geballt und stand in Kampfstellung, jederzeit bereit, sich auf ihn zu stürzen. Ihre schwarzen Locken lagen wild um ihren Kopf. Der Anzug, den sie trug, wies sie als einen einfachen U-Boot-Kommandanten der Elite aus. Gerade beschimpfte sie Sky als einen Verräter und beschuldigte ihn, einen Krieg ausgelöst zu haben.
„...es gibt keine andere Möglichkeit!“, fuhr Sky sie an.
„WIE VIELE LEBEN WILLST DU NOCH OPFERN? DU HAST DICH NICHT GEÄNDERT! WIE KANNST DU HIER SO RUHIG STEHEN UND IMMER NOCH DEINEN DUMMEN PLAN VERFOLGEN?“
„Ich mache das nur für sie. Es war fair.“
„WAR ES NICHT! RACHE IST NICHT GERECHT! WANN KAPIERST DU DAS ENDLICH, DU KRANKER MANN? OH, WIE ICH DEINE KRANKHAFTE GLEICHGÜLTIGKEIT VERABSCHEUE!“
„Ich beherrsche mich. Etwas, was du nie gelernt hast!“
„DU BIST EIN MÖRDER! FAST 50 U-BOOTE SIND GEFALLEN! DIE HOCHSEEMENSCHEN HABEN UNS REGELRECHT AUSGELÖSCHT!“
„Dein Jack hätte sich eben nicht einmischen dürfen.“
„WIE IMMER SCHIEBST DU DIE SCHULD ANDEREN ZU! ICH WARTE NUR NOCH DARAUF, DASS DU BEHAUPTEST, LETITIAS TOD SEI AUCH NICHT DEINE SCHULD GEWESEN!“
Ein metallenes Gerät flog plötzlich haarscharf an der Frau vorbei und direkt auf Abyss zu. Er duckte sich und es prallte gegen die Wand.
„War das sein Strahler? Sky hat seine Waffe nach ihr geworfen?“, fragte Gibbli ungläubig.
„DEIN ERNST? JETZT WIRST DU AUSFALLEND? JAHRELANG HAT ELVIRA VERSUCHT, DIR EINZUTRICHTERN, DASS DEINE VERDAMMTE KLEPTOMANIE NUR DARAN LIEGT, DASS DU DEINEM ÄRGER NIE LUFT MACHST UND ALLES IN DICH HINEIN FRISST! ICH HAB DIR IMMER GESAGT, SPRICH MIT DEN LEUTEN UND SCHREIE SIE AN! Deine zwanghafte Zurückhaltung tut dir nicht gut, aber du hörst ja nicht! Und jetzt fängst du auf einmal damit an, mich mit diesem Ding zu ...“ Während sie sprach, war die Frau immer leiser geworden. Schließlich brach sie ganz ab.
„So redest du nicht mit mir.“ Sky stand da, alle Muskeln angespannt, als würde er ihr gleich jedes Haar einzeln ausreißen und die Frau trat einige Schritte von ihm weg. „Nicht hier und schon gar nicht vor meiner Crew. Verlasse sofort mein Boot, Dessert!“
Es war Gibbli ein Rätsel, wie er das in seiner Verfassung so ruhig aussprechen konnte. Doch gerade weil er nicht schrie, klangen seine Worte umso furchteinflößender.
Dann donnerte seine Stimme durch die Galerie: „VERSCHWINDE!“
Gibbli war sich sicher, dass er ihr das kein zweites Mal befehlen würde und der Frau schien das ebenfalls klar zu sein.
„Dann geh doch unter, du Narr!“ Sie wirbelte herum und eilte zur Tür, die zum Hangar führte.
Gibbli wich zurück, als ihr Kapitän sich schlagartig in ihre Richtung drehte. Seine Finger wirkten so angespannt, als könnten sie Stahl brechen. Mit gefletschten Zähnen kam er auf sie zu.
„Was war das denn eben?“, fragte Abyss mit erhobenen Augenbrauen.
„Meine Exfrau“, knurrte Sky. Er schubste Abyss zur Seite, rauschte an ihnen vorbei und stapfte die Rampe hinab. Cora hüpfte ihm lachend hinterher und ahmte dabei seine wütenden Bewegungen nach.
Als Gibbli und Abyss ebenfalls in die Zentrale hinabstiegen, half der Kapitän gerade dabei, den Tisch zu decken. Mit lautem Klirren knallte er eine Schüssel vor Nox, der genervt nach hinten rutschte. Der Inhalt schwappte über und hinterließ eine gelbliche Pfütze. Bo stand bewegungslos da und sah ihm zu, während sie ihren Mund zu einem schmalen Strich zusammen presste. Ihr fiel es immer schwer, nichts zu sagen und auch jetzt konnte sie dem Drang kaum widerstehen. Bo öffnete den Mund, doch Sky schlug schon die nächste Schüssel auf den Tisch und fuhr sie dann scharf an. „Tu mir einen Gefallen und halte heute einfach dein Maul, Bo!“, presste er hervor.
„Maul!“, wiederholte Cora. Begeistert von seiner Art, das Geschirr aufzutischen, warf die kleine KI eine Hand voll Löffel mit voller Wucht auf den Tisch. Scheppernd prallten sie davon ab und verteilten sich quer über die Oberfläche. Einer rutschte über die Kante und fiel zu Boden.
Als sie sich zum Essen setzten, herrschte ein unangenehmes Schweigen. Gibbli fiel allerdings auf, dass neben Cora auch Abyss leicht grinste.
„Hey Schreihals, du hast deinen Strahler in der Galerie liegen lassen“, sagte er in die Stille hinein.
Gibbli betete, dass sie sich verhört hatte.
Sky, der mit einer Hand seinen Kopf hielt und in der anderen eine Gabel, sah ihn mit düsterem Ausdruck an. „Reiz mich nicht“, zischte er leise.
Gibbli war sich sicher, dass er darüber nachdachte, die Gabel in Abyss‘ Augen zu rammen. Erst jetzt bemerkte sie die langen, vernarbten Linien auf Skys Gesicht: Überbleibsel von Krallenspuren. Unwillkürlich rutschte sie ein Stück von Nox weg, als die Erinnerungen in ihr hochstiegen.
Abyss zog eine Schüssel Brei aus undefinierbarem Etwas zu sich heran und blickte diesen nachdenklich an, dann wandte er sich flüsternd an Gibbli: „Was meinst du, angenommen dieses Zeug hier klebt in seinem Gesicht, würde es dann verdampfen?“
„Lass es“, flüsterte sie energisch zurück, dennoch zogen sich ihre Mundwinkel kurz nach oben. In ihrer Vorstellung sah sie Abyss schon einen Löffel seines Breis Richtung Sky schleudern.
Als der Kapitän aufstand, zog er etwas Metallisches aus seiner Tasche und betrachtete es genervt. „Großartig. Das auch noch.“ Er warf den Strahler auf den Tisch. „Die wird sich freuen“, murmelte er und verließ die Zentrale.
„Ich mag es, wenn er das macht“, sagte Abyss und lachte schadenfroh, als Gibbli die Waffe genauer betrachtete, die Sky hatte mitgehen lassen. ‚Dessert K.‘ stand in kleinen Buchstaben auf einer Seite eingraviert.

 

Nach dem Essen folgte Gibbli Bo nach oben, um sich den Verband wechseln zu lassen. Sie dachte an das, was ihr bevorstand. Diese blöde Position der Stadt musste auf diese dumme Kugel! Niemand an Bord brachte das zu Stande, außer Gibbli. Aber vielleicht gab es da noch eine andere Möglichkeit.
„Bo?“, fragte sie und setzte sich nervös auf den Stuhl im Krankenzimmer. „Nox hat doch dieses Marahang von den Wächtern gestohlen, oder? Dann war er dort, er muss wissen, wo Ocea liegt!“
„Nein“, sagte Bo traurig und holte ein Messer aus einem Regal, um frischen Verband von einer Rolle abzuschneiden. „Nox und Elai waren nie dort. Eins der wenigen Dinge, die ich aus ihm herausbekommen hab. Enttäuschend, nicht? Sie haben es aus dem Archiv der Meeresakademie entwendet. Dachten wohl, es hört sich eindrucksvoller an, wenn sie es so ausdrücken.“
Gibbli ließ den Kopf hängen und legte ihr Bein hoch, während sie darauf wartete, dass Bo ihr weitere Sätze entgegenwarf, wie sie es immer tat. Doch überraschenderweise sagte sie kein Wort mehr. Schweigend nahm Bo Gibbli den Verband ab. Als sie ihre Wunde desinfizierte, begann Bo dann doch wieder zu sprechen.
„Ich glaube, er mag mich nicht“, murmelte sie.
„Wer?“, fragte Gibbli und blickte erstaunt auf.
„Nox. Er redet kaum mit mir und wenn er sich dann doch dazu herablässt, antwortet er mir meist nur knapp in Gedanken. Er verhielt sich so komisch, als er gestern hier auftauchte. Mit seinem ersten Satz machte er mir einen Vorwurf, kannst du dir das vorstellen? Kein ‚Hallo Schwester!‘ oder ‚Wie geht es dir?‘ nein, er dachte mir einen Vorwurf an den Kopf! Weil er mir ja befahl, an die Oberfläche zurückzukehren. Aber was soll ich denn dort? Kannst du dir vorstellen, wie langweilig es in diesem Krankenhaus an der Küste war?“
Gibbli schüttelte den Kopf und Bo begann damit, ihr den neuen Verband umzulegen.
„Und dann sagte er, ich sei dumm, weil ich die Warnung ignorierte. Welche Warnung denn bitte? Er hat mir nicht drauf geantwortet! Meinte nur, dass unser Onkel das sagte, dieser Elai. Du bist ihm begegnet, nicht wahr? Wie ist er so?“
Gibbli zuckte mit den Schultern. Bei Bo kam man sowieso nicht zum Sprechen. Schon hatte sie wieder den Mund offen und redete weiter.
„Nox erzählt mir gar nichts über Elai! Er sagt überhaupt nur wenig. Ich wollte ihn zur Rede stellen, warum sie immer die Landmenschenstädte angreifen. Er hat einfach nur mit den Schultern gezuckt, als sei es ihm völlig egal! Weißt du, ich glaube, Nox hat noch immer nicht ganz überwunden, dass unser Dad angeblich von Landmenschen getötet wurde. Glaubst du Nox‘ Mum lebt noch? Ich hab ihn gefragt. Er meinte, das geht mich nichts an. Und dann die Sache mit Sam. Er sagt kein Wort dazu! Kannst du dir vorstellen, dass Sam ihn wirklich mag? Glaubst du, er redet mit ihr auch so wenig? Er hat ihr ja anscheinend nicht mal erzählt, dass ich noch am Leben bin. Das ist komisch, mir meine Halbschwester zusammen mit meinem Halbbruder vorzustellen. Aber es ist auch schön, oder? Vielleicht verringert das den Konflikt zwischen unseren Arten. Ich hoffe es so sehr und dass wir bald nach Ocea kommen, um sie zu treffen.“
Das hörte sich an, als sei Bo ganz sicher, dass sie die Stadt erreichen würden. Dabei wussten sie ja noch nicht einmal, wo sie sich befand. Als Bo fertig war, öffnete sie erneut den Mund, um noch etwas zu sagen, doch dann ließ sie es bleiben. Sie schien etwas zurückzuhalten, aber Gibbli fragte nicht weiter nach. Sicher war Bo nur besorgt wegen Sam.

 

Sky schien den ganzen Tag über gereizt und Gibbli rechnete jeden Moment damit, dass er ihr befehlen würde, die Kugel zu benutzen. Während sie mit einem Kribbeln im Bauch an Cora herum schraubte, um nach einer Verbindung zu Steven zu suchen, manövrierte er das U-Boot weiter aus dem Durchgang des Tensegraben heraus.
Gibblis Suche blieb erfolglos und auch eine direkte Befragung von Abyss in verschiedenen Sprachen, brachte nichts aus Cora hervor. Sie verhielt sich wie das kleine Kind, das sie schon immer war und hatte keine Ahnung, von was sie überhaupt sprachen. Gegen Nachmittag war es dann schließlich so weit.
„Alle abgezogen“, murmelte Sky, als sie am Rand dessen entlang fuhren, was vor einigen Tagen noch einem Schlachtfeld geglichen hatte. Weit und breit gab es keine Spur von der Landmenschenflotte und auch die Hochseemenschen schienen sie zu meiden. „Wir warten hier. Ein gutes Versteck. Niemand würde uns an diesem Ort vermuten.“
„Folgen uns die Tiefsemenschen noch?“, fragte Abyss.
„Sieht nicht so aus.“ Der Kapitän schob die Steuerbedienungen beiseite.
Nox verschränkte die Arme. „Ich vereinbarte mit Elai, dass er sie ablenkt.“
„Dann tun wir es jetzt. Gibbli, zeige uns die Position.“

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