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Kapitel 9: Eine Nacht in Noko (Bis in die tiefsten Ozeane)

Als die erste Unterwasserstadt hatte man Noko nahe der Küste erbaut. Durch die geringe Tiefe des Wassers drang viel Licht hinein und erweckte den Eindruck von bunten, farbenfrohen Gebilden. Sie lag an einem großen Riss, der sich als langer Graben am Meeresgrund entlang zog. Durch die Nähe zur Oberfläche hatten sich hier nach und nach immer mehr Landmenschen versammelt. Die Stadt war gewachsen und zu einem der Haupthandelsplätze unter dem Meer geworden. Die Menschen hier lebten in durchsichtigen Röhren, welche die verschiedenen Behausungen und Einrichtungen verbanden. Man konnte darin sogar radfahren. Es gab mehrere Plätze, überdacht mit Kuppeln aus dickem, gehärtetem Glas. Einer dieser Plätze schloss nahtlos an den Bahnhof des MA-Express‘ an. Über ihn gelangten die Menschen aus dem Meeresexpress direkt auf den größten Markt der Stadt.
„Das ist so überwältigend!“, schwärmte Bo, als sie mit Sky über den Platz spazierte. Sie war sich sicher, diese Stadt würde nach Seetang und frischen Meeresfrüchten riechen. Fast konnte sie den herrlichen Duft in ihrer Nase spüren.
„Setz die Kapuze auf!“, ermahnte Sky sie und ließ seinen Blick grimmig über die Menge schweifen.
Bo streifte sich die Kapuze des Kleides über den Kopf. Stimmt, sie erinnerte sich an seine Worte, dass hier nur Landmenschen erlaubt waren. Doch in der Menge fiel Bo gar nicht groß auf. Händler und Bewohner der Stadt hatten kreuz und quer über den ganzen Platz verteilt ihre Läden aufgeschlagen und boten Waren aller Art an. Es gab verschiedenste Nahrungsmittel, sogar frisches Obst. Überall standen kleine Maschinen herum und technische Spielereien, die von den Verkäufern als bahnbrechend angepriesen wurden. Begeistert versuchte Bo so viele Eindrücke wie möglich zu erhaschen.
„Hier finden wir ihn nicht“, stellte Sky fest, während sie an einer älteren Frau vorbeigingen, die sich bei einem Verkäufer lauthals über einen überteuerten Wasserentsalzer beschwerte.
Das Gerät sah aus wie ein großer Trinkbecher aus Metall mit kleinen grünen Lichtern an der Außenseite. Bo blieb stehen und betrachtete es neugierig.
Sky packte ihren Arm und zog sie weiter. „Bleib nicht stehen. Wir müssen hier fort“, sagte er ruhig. „Zwei Röhren von hier liegt ein Hotel.“
„Aber sollen wir nicht nach Abyss suchen?“
„Nein. Heute wird das nichts mehr. Irgendetwas stimmt hier nicht.“
Sie schlängelten sich zwischen den Ständen hindurch. Bo hielt ihr Ocea-Buch fest in Händen, damit es in der Menge nicht abhandenkam. Sie hatte längst den Überblick verloren und am liebsten wäre sie hier geblieben, um all die interessanten Gegenstände zu betrachten, die es hier gab.
Ein Stand zum Beispiel war vollgestopft mit Behältern und Fläschchen. Bo wollte näher treten, um die Aufschrift einer Flasche mit grellroter Flüssigkeit zu lesen, als sie unerwartet Skys Hände spürte. Mit einem kräftigen Ruck riss er sie zur Seite. Gerade noch rechtzeitig! Beinahe wäre sie direkt in einen Mann gekracht. Er war genauso gekleidet, wie die Soldaten im Zug, die diesen Steven abgeführt hatten.
„Ungewöhnlich viele Soldaten hier“, murmelte Sky und blickte ihm nachdenklich hinterher.
Nach ein paar Minuten erreichten sie eine der vielen Röhren, welche vom Hauptplatz am Bahnhof aus wegführten. Sie war nur einige Meter breit.
„Aus dem Weg!“, rief ein Mann, der gerade aus der Röhre kam und schubste Bo so heftig zur Seite, dass sie stürzte. Während sie wieder aufstand, hatte Sky ihn schon mit einer Hand am Hals gepackt. Er drückte den Mann nach oben, sodass nur noch die Spitzen seiner Kampfstiefel den Boden berührten. Es war einer der Soldaten.
„Was soll das? Loslassen!“, schrie er und versuchte, Skys Hand wegzudrücken. Vergeblich.
„So spricht man nicht mit einem Vorgesetzten“, sagte Sky ruhig.
Das war schlau von ihm es so auszudrücken, dachte Bo. Sky verriet damit nicht, dass er kein Vorgesetzter mehr für ihn war. Bo kam neugierig näher und erweckte damit die Aufmerksamkeit des Soldaten. Als sein Blick auf sie fiel, verzog er sein Gesicht.
„VERBOTENE PERS-“
Sky hielt ihm den Mund zu.
Eine Frau, mit einer großen Einkaufstasche um ihren Arm geschlungen, zog einen kleinen Jungen, an ihrer anderen Hand, schnell weiter. Sie machte einen großen Bogen um die drei, um dann in der Menge am Marktplatz zu verschwinden.
„Sie gehört zu mir“, sagte Sky mit tiefer Stimme. Der Mann fing an zu zappeln. Eine Gruppe von neugierigen Menschen blieb in einigem Abstand zu ihnen stehen und sah tuschelnd zu ihnen herüber.
„Oh, Sky, schau mal, die Leute starren uns an“, sagte Bo fröhlich.
Der Soldat hielt inne und seine Augen wurden groß. „Du bist ... Du ...“, stotterte er und entsetzt starrte er Sky an, der ihn jetzt angeekelt losließ. Zitternd verbeugte sich der Soldat. „Flottenführer Sky! Ich bitte um Verzeihung. Ich dachte, du siehst ihm nur ähnlich, wir wurden nicht informiert, dass du kommst.“
Sky reagierte nicht darauf und sah ihn berechnend an.
„Sir“, er blickte zu Bo „Sie ist ... also sie-“
„-geht dich nichts an“, vollendete Sky den Satz. „Ignoriere sie, wenn du deine Gedärme behalten willst.“ So ruhig wie er das sagte, hörte es sich an, als gäbe es keinen Zweifel, dass er es ernst meinte.
„Das klingt ziemlich böse“, sagte Bo empört, doch keiner der beiden Männer beachtete sie.
„Ich verlange Auskunft!“, befahl Sky dem Soldaten, der sofort salutierte.
„Sir, wir erhielten vorhin eine Eilmeldung von einem Can, dass wir alle Erwachsen Männer kontrollieren sollen, die mit einem Kind unterwegs sind. Noch gaben sie keine Namen raus, aber laut den Informationen könnte ein Entführer heute oder morgen mit dem Meeresexpress hier ankommen.“
Sky nickte. „Verschwinde.“
Und der Soldat rannte weiter Richtung Bahnhof, wo er in der großen Menschenmasse am Hauptplatz untertauchte.
„Also deswegen sind hier so viele Soldaten“, sagte Bo, neugierig mehr darüber zu erfahren. Und was war eigentlich ein Can?
Doch leider schien Sky diese Geschichte nicht zu interessieren, denn er setzte sich schon wieder in Bewegung. „Mein Rauswurf hat sich noch nicht herum gesprochen“, sagte er und wandte sich in die entgegengesetzte Richtung, hinein in den Tunnel. „Und was noch wichtiger ist, sie haben noch nicht bemerkt, dass ich die Karte mitnahm. Das ist gut.“
Bo blickte neugierig zurück zum Marktplatz und beeilte sich dann, um mit Sky Schritt zu halten.
„All die Mühe, sie zu finden. Und jetzt hat sie dieser Abyss. Ich frage mich, was er in Ocea will“, überlegt er laut.
„Er hat von einem Dolch gesprochen“, sagte Bo und versuchte, sich an das Gespräch mit ihm im Zug zu erinnern.
„Gute Dolche gibt es überall. Aber vielleicht denkt er, ein oceanischer Dolch sei besser. Kein Wunder, in dieser Technologie steckt so viel Macht.“
„Warum möchtest du Ocea finden? Gibt es dort Schätze?“, fragte sie voller Neugier.
„Nein. Ich …“, er zögerte kurz, „… möchte beweisen, dass ich Recht habe. Es ist nicht fair, dass sie mich rauswarfen. Oceanische Technologie könnte hilfreich sein. Ich finde es falsch, sie zu verbieten. Viele Landmenschen sehen sie als etwas Böses an. Aber das ist sie nicht. Es kommt immer darauf an, wie man sie einsetzt.“
Bo nickte erfreut.
„Die Gerechtigkeit siegt immer“, murmelte Sky und sie bogen in eine angrenzende Röhre ein.
Je weiter sie sich vom Hauptplatz entfernten, desto ruhiger wurde es. Wenn Sam sie jetzt nur sehen könnte, dachte Bo und wieder kamen ihr Zweifel, ob sie wirklich noch lebte. Aber sie musste einfach und irgendwann würde sie ihre Halbschwester finden. Sicherlich würde Sam auch nach ihr suchen. Bo konnte es kaum glauben, dass sie sich tatsächlich in einer richtigen Unterwasserstadt befand. So, wie sie es sich immer erträumt hatte!
„Das eine kommt und das andere geht. Als wollte mich jemand ärgern. Aber ich brauche beides. Wir brauchen unbedingt die Karte wieder“, sagte Sky.
„Weißt du nicht schon längst, wo sie hinführt?“
„Ja. Nur diese Information alleine bringt uns nichts. Es ist nicht nur eine Karte, Bo. Es ist …“

 

„… ein Mechanismus“, erklärte Abyss ein paar hundert Meter weiter. „Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“, fragte er Gibbli, die verträumt auf das Wasser vor ihnen blickte.
Sie befanden sich in einem still gelegten Hafen. Dabei handelte es sich um eine alte Tauchstelle mit verrosteten U-Booten, die nicht mehr funktionierten und Bergen von Schrott. Hier wirkte alles düster und dreckig, nicht so farbenfroh wie die anderen Teile der Stadt. Aber jede Stadt besaß so seine Viertel, über die man nicht gerne sprach.
„Der Schlüssel für das U-Boot?“, fragte Gibbli und versuchte, die Hybridenfrau aus ihrem Kopf zu verdrängen.
Mittlerweile war ihr auch klar, um wen es sich bei dem Anderen handelte. Er war tatsächlich kein geringerer als der oberste Flottenführer Sky höchst persönlich. Ex-Flottenführer. Sie scheuchte auch die Gedanken an ihn zur Seite und betrachtete misstrauisch die Tauchkapsel. Das kugelförmige Ding lag halb im Wasser und schaukelte leicht hin und her.
„So was in der Art. Hier.“ Abyss stellte einen Behälter voller Ersatzteile vor ihr ab, die er von den umliegenden Booten eingesammelt hatte. „Denkst du, du kriegst das alte Ding wieder flott?“
Das alte Ding, wie Abyss es nannte, war mehr eine Schrottkiste. Die rostfreie Metallbeschichtung schien an einigen Stellen aufgeplatzt. Ein Teil der freigelegten Oberfläche wirkte etwas mitgenommen und hatte sich leicht kupfern verfärbt.
„Klar“, sagte Gibbli und fing an, die Tauchkapsel genauer zu untersuchen. „Die Frage ist nur, ob sie stabil bleibt.“
Gibbli untersuchte die runde Kartenscheibe genauer. Es war ein sich selbst ändernder Lageplan, mit einem gewöhnlichen Energiespeicherkristall. Dieser zog jedoch irgendwie Energie aus der Umgebung ab und scannte diese in bestimmten Abständen, um dann die Position des U-Boots darauf automatisch zu markieren. Das Ding stellte ein geniales Stück Technologie dar, mit einer ungewöhnlichen Mischung aus Landmenschentechnik und oceanischen Mechanismen.
„Ich kann die Zeichen hier am Rand nicht lesen. Steht da etwas über das U-Boot? Wie weit wir nach unten müssen?“
„Nein“, meinte Abyss. „Da steht, dass man damit die Zugänge der Mutter öffnet. Ich nehme an, damit ist das U-Boot gemeint. Zugänge, also Mehrzahl, wahrscheinlich gibt‘s mehrere. Ein Hangar, vielleicht ein paar kleine Schleusen. Keine Ahnung.“
„Das ist alles?“, fragte sie entrüstet. Wie konnte man nur so wenig vorbereitet sein? „Wir müssen wissen, wie man dort andockt und wie lange es schon dort unten liegt. Was, wenn es im Boden feststeckt? Und es kann sein, dass es geflutet wurde!“ Für Gibbli schien eine Bergung aussichtslos, unmöglich, nicht mit dieser Ausrüstung.
„Das heißt, wir brauchen Festluftkugeln“, stellte Abyss schulterzuckend fest.
„Weißt du, wie teuer die sind? Und wie gefährlich?“
„Lass das meine Sorge sein, Gibbli. Ich besorg uns welche.“ Er kramte in seinem Mantel und zog zwei EAGs hervor.
„Die hast du doch nicht gestohlen, oder?“, fragte Gibbli misstrauisch.
Vorwurfsvoll sah er sie an. „Was denkst du von mir? Das ist meiner und der hier gehört dem Mönch.“
„Es ist verboten fremde EAGs zu nehmen, nicht einmal mit der Erlaubnis der Besitzer! Darauf sind hohe Strafen angesetzt! Weiß er, dass du seinen EAG hast?“
„Ach, dieses alte Großmaul kommt auch mal ohne ihn aus und das viele Geld darauf braucht er eh nicht“, wich er ihrer Frage aus. „Bis später dann.“
Und bevor sie ihn aufhalten konnte, schritt er durch den verlassenen Hafen zu einem der Verbindungsrohre. Dieser Mann würde für ihren Tod sorgen, da war sich Gibbli sicher.
„Dann bring auch gleich ein paar Neodym-Magnete mit!“, rief sie ihm nach.
Schließlich mussten sie die kugelförmigen Flaschen ja irgendwie befestigen. Es war viel zu gefährlich, sie ins Innere der Kapsel mit hinein zu nehmen. Dann machte sie sich an die Arbeit. Diese Gegend war ihr unheimlich, aber das Herumschrauben an der Tauchkapsel würde sie ablenken.

 

Das Deep Golden Sea Hotel lag an einer kleinen Röhre, die von einer der Hauptröhren abzweigte. Innen wirkte es sehr gehoben und die gepolsterten Sessel in der Wartebucht machten einen bequemen Eindruck. Begeistert betrachtete Bo eine hohe, durchsichtige Pflanze neben der Rezeption. Es brizzelte ein wenig, als sie eine Hand mitten hindurch steckte. Das Gewächs war nicht echt, nur ein Abbild.
Hinter der Theke der Rezeption stand eine lächelnde Frau mit langem Hals. Sie trug teuer aussehende Ohrringe und ihre spitze Nase war auf einen Bildschirm vertieft. Währenddessen tippte sie etwas in eine auf den Tisch projizierte Tastatur. Bo trat näher an sie heran.
„Eine Nacht für mich und meine Begleiterin“, forderte Sky mit seiner rauen Stimme hinter ihr.
Die Rezeptionsdame hob den Kopf und erblickte Bo. Sofort wandelte sich ihr Gesichtsausdruck. „Nein“, sagte sie kalt. „Ich möchte keinen Ärger.“ Ohne die beiden weiter zu beachten, tippte sie wieder etwas auf ihre holografische Tastatur. Die Frau schien ziemlich beschäftigt zu sein.
Sky zog ein quadratisches Gerät aus einer seiner Taschen und legte es auf die Theke. Bo erkannte sein Gesicht auf dem Bildschirm. Darunter stand sein Name, Skarabäus Sky sowie einige weitere Informationen über ihn. Offensichtlich handelte es sich dabei um eine Art Ausweis. Bevor Bo weiterlesen konnte, legte die Rezeptionsdame ein Verbindungskabel an der Seite dran, das sie blind aus einem Schlitz über ihr gezogen hatte. Dabei wandte sie sich jedoch nicht von ihrem Bildschirm ab. Ein durchsichtiger zweiter Bildschirm erschien jetzt mitten in der Luft vor der Frau. Beeindruckt betrachtete Bo die leuchtend blauen Buchstaben, die vor ihr hin und her flogen. So etwas gab es an Land nicht.
Die Augen der Rezeptionsdame weiteten sich plötzlich rasant. Dann blickte sie zum Flottenführer auf und sah zum ersten Mal in sein Gesicht. „Oh! Verzeihung, Verzeihung, Sir!“ Sie tippte hastig etwas in ihre Tastatur und zog dann das Verbindungskabel von Skys Gerät ab und der neue durchsichtige Bildschirm erlosch.
Er steckte das quadratische Ding zurück in seine Umschnalltaschen.
„Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Flottenführer Sky. Wir sind hier auf so hohen Besuch nicht vorbereitet. Es ist uns eine Ehre, sie zu empfangen. Willkommen an Bord. Zimmer 8 ist frei.“
„Steht das nicht einmal in ihrem Computer, dass du gefeuert wurdest?“, fragte Bo leise, während ein Aufzug die beiden eine Ebene nach oben brachte.
„Natürlich nicht. Jack kontaktiert sicher kein kleines Hotel einer fremden Stadt, nur um ihnen das mitzuteilen. Irgendwann in den nächsten Tagen werden sie es ganz groß in der Zeitung bringen. Bis dahin sind wir längst fort.“
Aufgeregt betrat Bo das Hotelzimmer. Die Schiebetür hinter ihnen schloss sich automatisch. Es war hell und freundlich eingerichtet. Eine Mischung aus moderner Technik, Stuck und Polstermöbeln. Auf einer Seite des Raumes stand ein runder Tisch mit zwei altmodischen Ohrensesseln. Auf der anderen Seite befand sich ein großes Aquarium, in das ein Rohr aus der Decke führte. Bis zum oberen Rand hin mit Wasser gefüllt, war es ansonsten vollkommen leer. Außerdem gab es zwei bequeme Liegeflächen und zwei Metalltüren in der Wand. Eine davon entpuppte sich als Kleiderschrank, die andere führte ins Badezimmer.
„Wie schön! Ich will am Fenster schlafen, darf ich? Bitte!“, rief Bo und rannte zu der großen Scheibe, vor der sich eine der Liegeflächen befand. Es bot einen herrlichen Ausblick über einen Teil der Stadt Noko.
Fasziniert betrachtete Bo einen kleinen Schwarm Fische, während Sky seine Umschnalltaschen ablegte. Als Bo sich umdrehte, zog er gerade den becherförmigen Wasserentsalzer hervor, den sie schon am Markt gesehen hatte.
„Oh, du hast ihn gekauft?“
„Nein. Ich gebe ihn zurück“, murmelte Sky genervt.
„Ich hab gar nicht gemerkt, wie du das Gerät mitgenommen hast.“
„Ich auch nicht“, sagte Sky und warf es auf den runden Tisch, während Bo schon weiter das Zimmer erkundete.
Die nächste Überraschung erlebte sie im Kleiderschrank. Bo drückte auf den Knopf und die Schiebetüren des Schrankes fuhren langsam auf beide Seiten auf. Es war mehr ein Kleidergeschäft als ein Kleiderschrank. Darin befand sich ein Hologramm von einer ledernen Hose. Hell leuchtend und halb durchsichtig schwebte sie mitten im Hohlraum des Schrankinneren. Bo glitt mit ihrer Hand hindurch und das Hologramm zerbröselte an den Stellen, an denen sie es berührte, um sich sofort wieder aufzubauen.
„Such dir etwas davon aus. Ich bezahle es“, befahl Sky. „So, wie du herumläufst, erregen wir zu viel Aufmerksamkeit. Ich gehe in der Zwischenzeit zum Zentralcomputer von Noko, um ein paar Unterlagen zu laden. Vielleicht haben die ja zufällig Informationen über diesen Abyss. Es ist zwar unwahrscheinlich, aber deiner Beschreibung nach kommt er mir irgendwie bekannt vor.“
Neugierig machte sich Bo an den Knöpfen zu schaffen und schob einen Regler zur Seite. ‚Weiblich‘ stand jetzt in dem kleinen Feld daneben. Die lederne Hose hatte sich in ihrer Form verändert und war jetzt vom Schnitt her mehr für Frauen angepasst. Man konnte alles Mögliche einstellen, wie etwa Größe, Form, Material und Farben. Schnell fand Bo Spaß daran, die lustigsten Kleidungsstücke zu erschaffen.

 

„So sind wir doch gleich viel unsichtbarer“, murmelte Sky etwas später und blickte düster auf das neonpinke Rüschenkleid, das Bo trug. Sie saßen in den bequemen Ohrensesseln am runden Tisch und hatten sich Essen ins Zimmer kommen lassen.
„Ich such mir noch etwas anderes. Nur die Farbe wirkt so wundervoll leuchtend und kräftig!“, schwärmte Bo und zog das Kleid zurecht. „Findest du nicht? Im Krankenhaus war alles immer langweilig weiß.“
Er antwortete nicht.
„Hast du draußen etwas über Abyss rausgefunden?“
„Ja.“ Sky nickte düster. „Die hatten tatsächlich eine Akte über ihn. Eine nicht gerade kurze.“
„Und?“, fragte Bo gespannt.
„Ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll.“ Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort. „Sie liest sich mehr wie ein verrückter Krimi, so etwas widerwärtiges habe ich noch nie gelesen. Die Berichte darin klingen fast unglaubwürdig. Also falls auch nur ein Bruchteil davon wahr ist, haben wir ein gigantisches Problem.“
„Ist Abyss so schlimm? Er kam mir so nett vor.“
„Nett spielen kann er offensichtlich gut. Und es gibt da noch etwas anderes. Auf jemanden wie ihn hätte mich Jack längst persönlich angesetzt, so ein Monster überlässt er keinem anderen. Außer es gab dafür einen guten Grund. Ich verglich die Daten mit meinen persönlichen Aufzeichnungen. Falls dieser Abyss tatsächlich der ist, von dem ich jetzt vermute wer er ist, dann hatte Jack diesen Grund. Und das wäre übel. Das wäre wirklich übel.“
Jack war der oberste Führer der Landmenschen, so viel hatte Bo schon mitbekommen und einer der drei Direktoren dieser Meeresschule, die sie nicht hatten aufnehmen wollen. Tausend Fragen sausten durch ihren Kopf. „Welcher Grund? Und wer vermutest du, ist er jetzt? Und was genau ist übel?“
Sky legte seine Gabel beiseite. „Ich möchte darüber jetzt nicht sprechen, ich muss darüber nachdenken. Zeige mir dein Buch.“
Bo sprang auf und holte es von ihrem Bett. Der goldene Ocea-Schriftzug über dem Bild der Stadt schien noch mehr zu leuchten als sonst.
Während Sky anfing, auf die Pfeiltasten zu drücken, um in den darin enthaltenen Texten zu stöbern, machte sich Bo über einen Teller grüner Seetangnudeln her.
„Du kannst es nicht lesen, oder?“, fragte sie nach einer Weile.
„Nein. Wie ich bereits sagte, nur ein paar einzelne Worte.“ Er ließ sich die nächste Seite anzeigen und betrachtete interessiert ein Bild. „Das Marahang.“
„Oh! Jetzt erinnere ich mich, es ist ja da drin! Ich wusste, es kam mir bekannt vor!“, rief Bo aufgeregt und fasste sich an die Brust, wo sich das Gerät befand.
Es fühlte sich langsam wie ein Teil von ihr an und sie spürte manchmal die Bewegung im Inneren. Was immer es auch war, was sich darin bewegte, es hatte sich anscheinend an ihren Atem angepasst. Wenn sie anfing, schneller zu atmen, fuhr das Ding auch schneller im Kreis herum.
„Pass gut darauf auf. Wir werden es noch brauchen“, sagte Sky.
„Natürlich. Nox meinte, es hält mich am Leben.“
„In der Tat. Das tut es.“
Am späten Abend saß Bo gähnend auf ihrem Bett. Doch sie kämpfte mit aller Kraft gegen den Schlaf an und beobachtete fasziniert einen riesigen Walhai in der Ferne. Ihr war nicht klar gewesen, dass diese Tiere so groß werden konnten! Auf Bildern sahen sie komplett anders aus. Müde folgte ihr Blick einer Gruppe kleiner Fische direkt vor ihrem Fenster. Sky schlief schon. Jedenfalls sah es so aus. Seine undurchsichtige Brille lag auf dem Tisch. Bo war überrascht gewesen, als sie erfahren hatte, was sich dahinter befand. Statt seinen Augäpfeln trug er schwarze Kugeln in den Höhlen, die sich als Implantate entpuppt hatten. Das Gewebe um seine Augen herum sah fürchterlich vernarbt aus. Wenn er seine Augen schloss, ging es noch. Sobald er sie öffnete, wirkten sie richtig bedrohlich. Als Bo gefragt hatte, was mit seinen Augen passiert war, hatte er nur knapp geantwortet: „Herausgerissen.“ Sie hatte über seinen Scherz gelacht und nicht weiter nachgefragt.
„Ich vermisse dich so“, flüsterte Bo leise in die Dunkelheit. Der Fischschwarm vor dem Fenster löste sich kurz auf, um sich dann wieder zusammen zu finden. Ich darf nicht traurig sein, dachte Bo und zwang ihren Mund zu einem Grinsen. Es sah bestimmt grässlich aus, sie musste das üben. Sie musste jetzt immer fröhlich sein, Sam hatte das gesagt. Immer lachen. Und so schwer war das ja auch gar nicht, denn hier unter dem Meer gab es unglaublich viel erheiternde Dinge, die Bo noch nie gesehen hatte.

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