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Kapitel 17: Ihre Schuld (Bis in die tiefsten Ozeane)

Sky kam völlig außer Atem in die Zentrale gerannt, die Strahlenwaffe in der Hand. Er schien erleichtert, als er Gibbli lebend erblickte. Für einen Moment musterte er Abyss, als könnte dieser jederzeit explodieren. Doch dieser hatte ihnen den Rücken zugewandt. Sky steckte den Strahler in die Tasche und wandte sich ihr wieder zu. Dabei fuhr er sich nachdenklich über seinen schwarzen Bart.
„Der Mönch, Andreas, ist tot. Er wurde beim Aufprall des U-Bootes an die Wand geschleudert. Die Abdeckung löste sich und die war darin eingeklemmt.“ Der Kapitän zeigte auf die Säge, die vor Gibbli am Boden lag. „Sie hat ihn durchbohrt, wir konnten nichts mehr tun.“
Mit einem Schlag spürte Gibbli ein Kribbeln in ihrem Bauch und es kam ihr vor, als würde sie in ein tiefes, dunkles Loch fallen. Oh nein! Was hatte sie getan?
„Ich hab sie dort vergessen … ich hab nicht … ich wollte nicht … ich hab die Mara auf das andere U-Boot …“ Sie zog sich vom Boden rückwärts hoch, auf die Sitzbank am runden Tisch. Währenddessen schritt Abyss langsam nach vorne, am Abgang zur mittleren Rampe vorbei.
Sky trat auf sie zu. „Du hast das gut gemacht, Gibbli. Ohne dich wären wir alle tot.“
Er blickte Abyss nach. Der schlug gerade mit voller Wucht gegen eine Konsole, als er diese passierte. Funken stoben aus ihr heraus und erhellten für einen Moment sein furchteinflößendes Profil.
Plötzlich wurde das ganze U-Boot erschüttert und die Wände erzitterten. Helles Licht blitzte durch das Frontfenster. Steven schien eines von Jacks Booten in nächster Nähe zur Explosion gebracht zu haben. Bedeutungslos.
Gibbli wäre Abyss am liebsten hinterhergelaufen, doch ihr war klar, dass er sie jetzt sicher nicht sehen wollte. Wahrscheinlich würde er sie nie wieder sehen wollen. Wenn sie nicht die Mara gesteuert hätte und gegen dieses U-Boot gestoßen wäre, wenn sie gestern noch diese dämliche Säge gesucht hätte, wenn sie nicht … ohne ihr, würde der Mönch jetzt noch leben.
„Steven war hier“, flüsterte sie. „Er ist einer der Wächter.“
Vorne in der Zentrale blieb Abyss stehen und erstarrte. Bo, die gerade hereinkam, ließ ihren Taucherhelm fallen. Sky fing ihn auf, ehe er den Boden berührte und legte ihn auf den runden Tisch, dann kniete er sich vor Gibbli nieder. Sie hielt sich die Hände vor ihre Augen und versuchte, nicht in Tränen auszubrechen. Es war ihre Schuld, sie hatte ihn getötet! Sie hatte den Mönch umgebracht!
„Was wollte er?“, fragte Sky ruhig.
‚Mich‘, wollte Gibbli sagen. Irgendetwas hielt sie davon ab. Stille breitete sich in der Zentrale aus. Dann hörte Gibbli seine Schritte. Abyss kam zurück. Er blieb in einiger Entfernung zu ihr stehen. Sie zog ihren Kopf hoch, blickte vorbei an Sky und zwang sich dazu, Abyss anzusehen. Düster starrte er zurück. Seine anklagende Miene brach ihr das Herz. Sie hatte das doch nicht gewollt!
„Was sagte er? Was tat er? Wie war er?“, fragte ihr Kapitän wieder.
„Kalt“, antwortete Gibbli knapp.
„Jetzt erzähl schon!“, befahl Sky ungeduldig.
„Er meinte, ihr wollt mich hier nicht haben“, wisperte Gibbli und schaute weiterhin in Abyss‘ Gesicht. Sein Schweigen machte sie wahnsinnig. „Ich wollte euch helfen. Das war ein Fehler. Ihr braucht nicht mich, ihr braucht nur meine DNA. Ich … ich sollte gar nicht mehr hier sein. Ihr haltet mich für unfähig!“, brach es aus Gibbli hervor und sie sprach damit die Worte aus, die sie schon lange loswerden wollte.
Für einen winzig kurzen Moment glaubte Gibbli, einen gequälten Ausdruck auf Skys Gesicht zu erkennen. Doch sie hielt ihren Blick weiter auf Abyss‘ stechende Augen gerichtet, so schwer es ihr auch fiel.
„Hat er dir das eingeredet? Will er uns gegeneinander aufhetzen? Gibbli, lass dich nicht von ihm beeinflussen! Du hast richtig gehandelt“, stellte Sky mit fester Stimme klar.
Sie schwieg.
„Es ist wegen des Tauchens“, sagte der Kapitän jetzt leise. „Gibbli, verstehst du nicht? Sie war jung, viel jünger als du, aber hätte ich meine Tochter schon eher in den Tauchkurs geschickt, hätte sie … sie wäre nicht …“ Er brach ab. Drehte sich energisch um und ballte die Hände zu Fäusten. „Sie hätte überlebt.“
Und Gibbli begriff es. Sky wollte, dass sie tauchen lernte wegen seines Kindes. Seine Tochter, die ertrunken war, weil sie es nicht konnte. Er wollte, dass Gibbli überlebte. Doch all das besaß jetzt keine Bedeutung mehr. Abyss hasste sie!
„Ich habe ihn umgebracht“, flüsterte Gibbli, noch immer in seine Augen blickend.
„Es ist nicht deine Schuld!“, fuhr Sky sie gereizt an. „Abyss, sag es ihr, sie kann nichts dafür!“
Aber Abyss schwieg. Von seiner Faust, mit der er gegen die Konsolen geschlagen hatte, tropfte Blut.
„Ich bin deine Freundin. Du kannst mit mir über alles reden!“ Plötzlich spürte Gibbli Bo’s Hände um sich. Sie zuckte zusammen, starrte jedoch über Bo’s Schultern hinweg noch immer in Abyss ausdruckslose Augen und Bo brach die Umarmung ab. „Tut mir leid, ich weiß ja, dass du das nicht magst.“
Eine Idee formte sich in Gibblis Kopf und ihr war klar, dass dieser Gedanke eigennütziger nicht sein konnte. Es würde auch nicht die Schuld von ihr nehmen, aber damit ließe sich noch etwas Zeit schinden. Ohne den Blick von Abyss abzuwenden, fing sie leise an zu sprechen. „Suchen wir Sam. So heißt sie doch, deine Schwester?“
„Ja.“ Bo nickte überrascht. Die Augen in ihrem bläulichen Gesicht leuchteten begeistert auf.
Doch Skys Worte ließen ihre Hoffnung schwinden. „Nein, verflucht! Meine Crew fährt nach Ocea. Ohne weitere Umwege! Wer von euch nicht dieses Ziel verfolgt, sollte sich sofort klar werden, dass ich hier das Sagen habe! Ihr seid hier auf meinem U-Boot und die Mara fährt nach Ocea!“
Bo sah ihn traurig an. „Warum? Warum willst du so verbissen dort hin? Wir könnten doch zuerst-“
„Nein! Wir müssen herausfinden, wo sich diese Stadt befindet!“, unterbrach Sky sie.
„Ich weiß es“, sagte Gibbli leise und alle verstummten.
„Du weißt, wie man Ocea auf der Kugel erscheinen lässt?“, fragte Bo. Gibbli war sich sicher, kurz eine Träne auf ihrer Wange zu spüren. Schnell blockierte sie den Gedanken, jetzt in sie einzutauchen. Sie drehte sich nicht zu Bo hin, starrte nur weiter in Abyss‘ Gesicht.
„Steven zeigte es mir.“
„Tu es!“, verlangte Sky sofort. Er fragte nicht einmal nach dem Warum.
Gibbli schüttelte langsam den Kopf. „Wir retten zuerst Bo’s Schwester. Das ist meine Bedingung.“
Sky zögerte, drehte sich von ihr weg. Dann wandte er sich ihr wieder zu, überlegte kurz und nickte. „Meinetwegen.“
„Danke“, flüsterte Bo.
Eine weitere Explosion erschütterte plötzlich das U-Boot. Gibblis Finger krallten sich an die Kante der Sitzbank. Sie hätte beinahe vergessen, dass sie sich noch immer am Rand des Schlachtfelds befanden.
„Ich bringe uns besser hier fort.“ Sky sprang auf und eilte nach vorne. Bo folgte ihm mit einem breiten Lächeln im Gesicht.
Abyss sagte nichts. Noch immer starrte Gibbli ihn an. Sein düsterer Blick hatte sich verändert und wirkte jetzt traurig. Ein Ausdruck, der Gibbli noch mehr schmerzte und den sie noch weniger ertragen konnte. Beinahe wünschte sie sich, er hätte einfach eines seiner Messer genommen und es ihr mitten ins Herz gerammt.
Flehend sah sie ihn an und kaum hörbar hauchte sie seinen Namen. Doch er schüttelte leicht den Kopf, dreht sich um und entfernte sich. Sie ließ den Kopf hängen und fasste sich mit den Händen an die Stirn. Stille Tränen rannen über ihre Wange. Coras Küken kam heran gehüpft und flatterte auf ihre Knie. Abwesend streichelte Gibbli über den Kopf des mechanischen Tieres. Das würde sie nie wieder gut machen können.

 

Gibbli zog sich zurück in den Maschinenraum. Unfähig, irgendetwas zu tun, lag sie in ihrer Hängematte und grübelte. Abyss tauchte den restlichen Tag nicht mehr auf. Sein Koffer war verschwunden, ebenso wie die Decke am Boden.
Ihr Magen knurrte, doch sie wollte nichts essen und auch nicht zu den anderen hoch gehen. Eigentlich wollte sie überhaupt nirgendwo mehr hinfahren. Irgendwann tauchte Bo an ihrer Seite auf, mit einer Schüssel dampfender Algensuppe.
„Hast du Abyss gesehen?“, fragte Gibbli leise.
Bo schüttelte den Kopf. „Nein. Er ist seit dem Begräbnis verschwunden. Sky erzählte, hier im Meer ist es üblich, dass die Toten abgeholt und in die Colbspalte versenkt werden. Aber das ging nicht, wir sind ja auf der Flucht. Unser Kapitän wird jetzt auch gesucht. Also haben wir Andreas im Meeresboden begraben. Es hätte ihm bestimmt gefallen, nicht bei den Landmenschen zu enden, sondern hier im Hochseemenschengebiet.“
Gibbli senkte den Kopf. Die Colbspalte war ein Riss im Boden, nahe der Meeresakademie. Natürlich konnten sie es nicht riskieren, den Mönch von der Bestattungsfirma abholen zu lassen. Niemand hatte ihr erzählt, dass sie ihn begruben. Also wollte Abyss sie nicht dabei haben. Nur mit Mühe schaffte Gibbli es, ein paar Löffel der heißen Suppe in sich hinein zu zwängen, während Bo’s Augen sie besorgt musterten.
„Es gibt auch gute Neuigkeiten. Cora ist wieder da“, sagte Bo mit einem Lächeln, versucht sie wieder aufzumuntern. „Das Kind kam einfach in die Zentrale spaziert. Sky hat versucht, sie über diesen Steven auszuquetschen, aber Cora meinte nur, dass sie ihm geholfen hat, Jacks Flotte abzulenken, damit wir entkommen können. Das war nett von ihm, findest du nicht?“
Gibbli schwieg und das Kribbeln in ihrem Bauch schien sich zu verstärken. Das war nicht nett, das war der Deal. Jetzt wäre es an der Zeit ihren Teil zu erfüllen und nach Ocea zu fahren. Bestimmt hatte er Cora als Spion geschickt. Sie wollte sich nicht ausmalen, was er tun würde, wenn Steven erfuhr, dass die Crew sich stattdessen auf dem Weg zu den Tiefseemenschen befand.
„Willst du nicht zu uns in die Zentrale kommen? Sky meinte, wir erreichen irgendwann heute Nacht den Durchgang zum Tensegraben. Danach tauchen wir weiter nach unten. Er will länger wach bleiben, damit wir hier so schnell wie möglich verschwinden. Ich glaube, die Hochseemenschen sind über unsere Anwesenheit ebenfalls nicht sehr erfreut.“
Gibbli schwieg. Bo machte noch einige Versuche, ihr ein paar Worte zu entlocken, ließ es dann jedoch bleiben. Irgendwann verschwand sie wieder nach oben. Gibbli bekam gar nicht mit, wann.
Nach ein paar weiteren Stunden verlor sie das Zeitgefühl. Das Einschlafen klappte nicht, ebenso wenig konnte sie sich auf irgendetwas anderes konzentrieren. Immer wieder dachte sie an Abyss und was sie ihm angetan hatte, was sie dem Mönch angetan hatte. Diese verdammte Säge! Dieser dumme Schubser mit dem U-Boot.
Das alles brachte Gibbli durcheinander, wie konnte man nur so leben? Als sie noch keine Freunde besaß, ging es ihr eindeutig besser. Sie schüttelte den Kopf. Hatte sie die Crew in Gedanken eben ernsthaft als Freunde bezeichnet? Sie hielt das nicht mehr aus! Sie musste etwas tun. Also sprang sie auf und wanderte ziellos das komplette untere Deck ab. Zwei Mal. Vergebens. An ihrem Gefühl, alles zerstört zu haben, änderte sich nichts. Sie musste Abyss finden. Gibbli gab sich einen Ruck und stieg die Rampe hoch in die Zentrale. Die Sonnenstücke, die in der Luft hingen, glühten nur noch schwach.
Sky saß hinter dem Steuer. Er blickte nicht auf, als Gibbli an ihm vorbeitrabte. Erst als sie die Konsolen passierte, hörte sie seine Stimme. Und er stellte die Frage, die sie ständig erwartet hatte, über die sie nicht nachdenken wollte: „Warum hilft er uns?“
Sie blieb stehen. ‚Weil Steven mich will. Weil ich sein Mädchen bin‘, dachte Gibbli. Steven würde sie anfassen. Steven würde ihr wehtun. Steven würde sie mit seiner Kälte erdrücken. Sollte sie Sky davon erzählen? Nein, entschied sie. Das würde nichts ändern. Was immer den Kapitän antrieb, er würde sein Ziel, Ocea zu erreichen, nicht aufgeben. Und Gibbli würde ihm folgen. Denn auf die Akademie zurückzugehen, war keine Option. Nicht nach dieser Offenbarung in der Zeitung. An die Konsequenzen, die ihre Eltern daraus ziehen würden, wollte sie nicht denken. Sie konnte nicht zurück und einfach normal weiter machen. Nicht nach alldem. Nicht nach … Abyss.
„Gibbli?“, unterbrach Sky ihre Gedanken.
„Ich weiß es nicht“, sagte sie und ging einfach weiter.
Bo und Cora waren nirgends zu sehen.
Einer Ahnung folgend, stieg Gibbli hoch in die oberste Ebene und wandte sich Richtung Hangar. Als sie den ersten Schritt auf den Rundlochgitterboden setzte, drang ein heulendes Geräusch in ihr Ohr. Oder war es ein durchgehendes Schreien? Nein, es hörte sich nicht menschlich an, mehr wie ein unheimlicher, lang gezogener Ton. Und so unglaublich traurig! Sie hatte so etwas noch nie gehört! Das Geräusch kam aus dem Inneren der kaputten Tauchkapsel, die zusammen mit einer Rettungskapsel aus Noko, einsam in der kleinen Halle lag. Gibbli trat vorsichtig einen weiteren Schritt auf die Kapsel zu. Mit einem Mal änderte sich der Ton, hörte sich quälend schräg an und brach anschließend ganz ab.
Zitternd zwang sie ihre Beine zur Luke der Tauchkapsel und trat hinein. Sie konnte kaum noch klar denken.
Abyss kniete mit dem Rücken zu ihr und schloss seinen Holzkoffer. Dann richtete er sich langsam auf, drehte sich jedoch nicht um.
„Geh weg“, knurrte er leise.
„Nein“, sagte sie schlicht. Die Sekunden Stille, die danach folgten, fühlten sich an wie eine halbe Ewigkeit.
„Weißt du, rechtlich gesehen gehört diese Kapsel jetzt mir und ich kann hier drin alles machen, was ich will.“ Abyss drehte sich um.
Im nächsten Moment spürte Gibbli, wie er sie an die innere Wand der Tauchkapsel schleuderte. Sie konnte sich gerade noch aufrecht halten.
„ICH SAGTE GEH!“, schrie er sie an. Sein Gesicht sah aus, als könnte man Spiegeleier darauf braten.
„Nein.“
„Du musst.“ Er kam auf sie zu und blieb vor ihr stehen.
„Ich gehe nicht“, brachte sie mit zusammen gekniffenen Zähnen hervor, versucht den Schmerz des Aufpralls zu ignorieren.
„Ich werd dir wehtun.“
Gibbli sagte nichts. Sie hatte es verdient, dass er ihr wehtat. Ihr war klar, dass er jeden anderen längst getötet hätte. Warum also tat er es nicht einfach?
„Du stehst vor einem Mörder“, sagte er drohend.
„Du auch“, antwortete Gibbli.
Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Schwer atmend ballte Abyss eine Hand zur Faust. Gibbli erkannte Reste seines eigenen Blutes an den Fingern. Er hob den Arm. In diesem Augenblick wurde ihr klar, dass sie ihm nicht ausweichen würde. Die Faust schoss direkt auf ihr Gesicht zu. Bewegungslos starrte sie zu ihm hoch. Im nächsten Moment krachte es knapp über ihrem Kopf und kleine Metallstücke regneten auf ihre Haare nieder. Seine Hand hatte mit voller Wucht die Wand getroffen. Frisches Blut tropfte von seinen Fingern auf ihre Stirn.
„Letzte Warnung. Der nächste Schlag wird deine Rippen zertrümmern“, knurrte Abyss kalt.
„Es kümmert mich nicht. Weil du es bist, der es tut.“ Hatte sie das gerade ernsthaft gesagt? Gibbli erkannte sich selbst nicht mehr wieder.
„Wir haben den Tensegraben erreicht“, ertönte jäh eine raue Stimme von draußen.
Sky steckte seinen Kopf durch die runde Kapselöffnung. Er erfasste die Situation sofort. Im Bruchteil einer Sekunde zog der Kapitän seine Waffe und richtete den Strahler direkt auf Abyss‘ Kopf.
„Verschwinde Gibbli“, befahl Sky, ohne den Blick von ihm abzuwenden.
Als wäre sie plötzlich aus einer Trance erwacht, schlüpfte Gibbli hastig unter Abyss‘ Arm hindurch und an Sky vorbei, nach draußen.
Ein dumpfes Krachen hallte von der Tauchkapsel aus durch den Hangar, als Gibbli durch diesen zum Eingang lief. Es hörte sich so an, als wäre Abyss zusammengebrochen, doch einen Schuss hatte Gibbli nicht vernommen.

 

In der Galerie blieb Gibbli völlig außer Atem stehen und sank an einer Wand zu Boden. Das hatte ihr noch gefehlt. Sie war nicht nur für den Tod von diesem Mönch verantwortlich, sondern auch noch für Abyss‘ blutende Hand. Zu allem Überfluss mischte sich auch noch der Kapitän persönlich ein. Alles ihretwegen! Völlig aufgelöst spürte Gibbli kaum die bläulichen Finger an ihren Schultern. Nur am Rande spürte sie, wie dünne Arme ihren Körper sanft durch den Raum schoben.

 

Als Gibbli aufwachte, sah sie sich orientierungslos um. Sie befand sich alleine in einem niedrigen Raum. Ein Viertel eines der runden Fenster bedeckte einen Teil der Wand, aber von draußen drang nur schwach dunkelblaues Licht in das Zimmer. Sie lag in weichen Polstern unter einer dicken Decke und der Boden um sie herum war mit Spielzeug übersäht. Lag da hinten nicht das Ocea-Buch von Bo? Sie richtete sich auf und betrachtete die Bilder an der Wand. Neben einer Karte hingen hier selbst gemalte Kinderzeichnungen und Bilder von Meerespflanzen. Dies musste Coras Kinderzimmer sein, in dem Bo schlief.
Dann krochen die Erinnerungen der letzten Nacht in ihren Kopf und Gibbli erschauderte. Mit einem mulmigen Gefühl suchte sie nach einer Öffnung nach draußen und fand schließlich eine Strickleiter, die nach unten führte, in einen ebenso niedrigen Raum. Hier lagen Puppen und weitere Spielzeuge verstreut auf einem Teppich. Ein niedriger Tisch und kleine Kinderstühle standen auf der Seite, außerdem gab es einige Geräte, deren Funktion Gibbli nicht kannte.
Sie wusste, dass es keine gute Idee war, aber sie musste unbedingt mit Abyss sprechen! Außerdem knurrte ihr Bauch vor Hunger. Also durchquerte Gibbli das anschließende Krankenlabor. Ein ekliger Geruch drang ihr in die Nase, als sie die Tür öffnete, um in die Galerie zu gehen. Mit dem Gefühl, gegen eine Wand zu laufen, trat sie dennoch hinaus zu den Pflanzen. Dort stieß Gibbli auf Bo, die sie sanft in das Krankenzimmer zurückdrückte.
„Wenn ich du wäre, würde ich da jetzt nicht runtergehen“, wisperte sie Gibbli ins Ohr.
Cora schlüpfte knapp hinter Bo noch durch die Tür, bevor sie sich schloss. Das Küken saß wieder auf ihrem Kopf.
„Abyss stinkt!“, rief das kleine Kind, wie immer grinsend. „Und Sky auch! Bäh!“
In Gibblis Kopf formten sich die schlimmsten Bilder der verwesenden Körper von den beiden Männer.
„Die zwei haben sich betrunken … nun, wenn man das so nennen kann, so ganz trifft es das nicht“, klärte Bo sie auf, die Gibblis entsetzten Blick bemerkte. „Ich habe uns Essen mitgebracht. Es ist wohl das Beste, wir machen es uns in Coras Kinderzimmer bequem. Ich glaube nicht, dass Sky heute in der Verfassung ist, das U-Boot auch nur einen Zentimeter weit zu bewegen.“
Gibbli folgte Bo durch das Labor und Cora hüpfte ihnen nach. Sie setzten sich an den niedrigen Tisch im unteren Bereich von Coras Kinderzimmer, wo Bo munter weiter sprach und ihr mitgebrachtes Essen ausbreitete. Es roch unglaublich lecker!
„Laut dem Gestopsel, das Abyss hervorbrachte, hat Sky zwar nur zwei Gläser getrunken, aber das ist für ihn wohl schon knapp am Tod vorbei. Er verträgt ja kaum was. Vor allem wenn man bedenkt, dass das etwas völlig anderes ist, als das Zeug, das man bei uns bekommen kann. Ich hab so was noch nie gesehen. Alkohol war es jedenfalls nicht. Und dann haben sie noch so ein komisches Sekret getrunken, das die Hochseemenschen angeblich aus Pelikanaalen gewinnen. Abyss hat es tatsächlich geschafft, ihnen einen ganzen Eimer von dieser grünen Giftbrühe abzuschwatzen! Ich glaube aber die gaben sie nicht freiwillig her. Hier, gebratener Fisch, magst du?“
Gibbli nickte und nahm sich ein Stück.
„Wilder Granatbarsch. Ich hab gehört, die biologische Abteilung der Meeresakademie fand einen Weg, ihn zu züchten. Aber so gut finde ich ihn nicht, er schmeckt fast gar nicht nach Fisch.“
Schweigend aß Gibbli und hing ihren Gedanken nach. Sie war sich nicht sicher, wie sie die Situation einschätzen sollte. Cora hockte neben ihnen am Boden und bekrizzelte eine Folie mit einem blauen Etwas, das anscheinend Bo darstellen sollte.
„Wie … geht es Abyss?“, fragte Gibbli nach einer Weile.
„Nicht besonders und dem Kapitän auch nicht. Ich bin mir nicht sicher, doch ich hab das Gefühl, dass sie sich geprügelt haben“, antwortete Bo. „Aber weißt du was? So sehr sich die beiden auch angeblich nicht leiden können, wenn sie vergiftet sind, verstehen sie sich prächtig!“ Bo sah sie prüfend an. „Du gibst doch nicht etwa dir die Schuld? Denk erst gar nicht dran! Gibbli, für ihre Taten sind sie selbst verantwortlich! Und das mit dem Mönch war ein Unfall, okay? Abyss ist einfach nur fertig deswegen. Ich glaube, er hat Andreas nicht mal richtig gemocht.“
Bo’s Worte munterten Gibbli nicht wirklich auf, dennoch fühlte sie sich etwas besser nach dem Essen. „Erzählst du mir von Sam?“, bat sie nach einer Weile, woraufhin Bo sie begeistert anstrahlte. Von ihrer Schwester oder Halbschwester, wie Gibbli mittlerweile wusste, redete die Frau gerne.
Sie verbrachten den ganzen Tag in Coras Zimmer. Gibbli vertrieb sich die Zeit damit, Coras Geruchschip zu untersuchen, den Bo ganz neidisch musterte. Es war erstaunlich, wie all die menschlichen Sinne in der KI nachgestellt wurden, so real! Und doch verstand sie die Verbindungen einfach nicht. Es war ihr ein Rätsel, woher Cora Energie bezog. Als würde der echte Geist eines Lebewesens in ihr stecken. Während Gibbli Bo’s Worten lauschte, merkte sie gar nicht, wie schnell die Zeit verstrich und als ihr Blick auf die Uhr an ihrem EAG fiel, war es bereits mitten in der Nacht. Sie überlegte, wieder bei Bo im Zimmer zu übernachten, entschied sich dann aber doch dafür, hinunter in den Maschinenraum zu gehen. Zwischen den Maschinen fühlte sie sich einfach wohler. Also verabschiedete sie sich von Cora und Bo und schlich sich nach draußen. Leise tappste Gibbli über die Galerie und hinunter in die Zentrale. Alles wirkte still und verlassen. Sky schien schon zu schlafen und unten im Maschinenraum fehlte ebenfalls jede Spur von Abyss. Gibbli lag noch lange wach in ihrer Hängematte und starrte in die Dunkelheit.

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