Gibbli fertigte gerade die ersten Konstruktionsskizzen über ein Hologramm an, als eine glänzende Gestalt ihre Aufmerksamkeit erregte.
„Es wird Zeit“, sagte Steven.
„Ich hab da eine Idee“, erwiderte Gibbli schnell, um ihm zuvorzukommen und von dem Spiel abzulenken.
„Eine Idee? Erzähl deinem Oca davon!“
Gibbli blickte auf. Sie hatte nicht erwartet, dass er darauf einging. „Kannst du das für dich behalten?“
Der Oceaner lachte hysterisch auf und sagte dann ganz ernst: „Nein.“
Sie stieß genervt die Luft aus und wandte sich wieder den Skizzen und ihren Berechnungen zu.
„Die Aufgabe, Mädchen. Jetzt“, sagte Steven tonlos.
Gibbli sah auf. „Schön. Ich habe eine Aufgabe für dich.“ Das war gar nicht schlecht, dachte sie, auch wenn ihr der junge Soldat mit den rostroten Locken lieber gewesen wäre. „Du wirst mir etwas besorgen. Hier ist eine Liste.“
Steven öffnete den Mund und atmete aus. Dann packte er ihren Arm, in dem sie das EAG hielt, verdrehte ihn und zog ihn zu sich heran, um die Liste zu lesen. Gibbli biss sich nervös auf die Lippen und wartete auf seine Reaktion.
„Golddrähte ... findest du hier an jeder Ecke ... Kondermagnete, nett ...“, murmelte er vor sich hin. „Uhhh, konservierte Nervenfasern? Das ist ... faszinierend.“ Er ließ ihren Arm los. „Diese Liste ist beeindruckend. Dir ist bewusst, dass ich dafür einem lebenden Menschen die Hand abhacken muss?“
„Ja ...“, sagte sie langsam.
Sein Blick fiel auf die holografischen Skizzen. „Hm ... das muss da ... und das ...“ Interessiert veränderte er darin einige Schaltkreise, während er vor sich hin murmelte. „Du hättest mehr eurer Biologiekurse besuchen sollen, von menschlicher Anatomie hast du keine Ahnung. Tss, ich muss dir noch einiges beibringen. Hm, wenn du älter bist. Ach nein, ich vergaß, das wirst du nicht mehr. Egal. So ist es besser. Wirklich nettes Spielzeug, das ich dir hier besorgen soll. Ich mag deine Idee, Mädchen.“ Dann wandte er sich von dem Hologramm ab und seine Stimme wurde aggressiver. „Aber du bist nicht dran.“
Gibblis Herz rutschte ihr in die Hose. Sie wollte keine neue Aufgabe! Er würde bestimmt etwas ganz Dummes verlangen. Nein, von ihm würde sie sich nicht mehr demütigen lassen! Er besaß jetzt keine Macht mehr! „Du besorgst mir dieses Zeug!“, fuhr Gibbli ihn an.
Steven lachte. „Langsam wirst du zu einem richtigen Oca. Das gefällt mir. Ich beschaffe dir, was du willst. Nachdem du meine Aufgabe ausgeführt hast.“
„Ich will nicht-“
Doch Steven sprach einfach weiter: „Um das alles zu bekommen, müssen wir hier sowieso raus. Also warum nicht die beiden Dinge miteinander verbinden?“
„Was meinst du?“, fragte sie mit hoher Stimme. Raus aus ihrer sicheren Etage hier oben? Doch nicht etwa zu den Soldaten hinunter?
„Beantworte mir eine Frage, Mädchen. Denkst du, es funktioniert, die Meermenschen auf unsere Seite zu ziehen? Alle Arten zu vereinen? Was hältst du von Skys Plan?“
Da brauchte Gibbli nicht lange nachdenken. Er hatte sie alle von einem fremden Planeten zurückgeholt und dafür sein Leben riskiert. Wenn Sky der Ansicht war, dass es klappte, dann konnte er es auch schaffen. Und selbst wenn nicht, Sky war der Kapitän, sie mussten alles versuchen, um seine Pläne in die Tat umzusetzen.
„Er ist Mist“, sagte eine Stimme hinter Gibbli, bevor sie antworten konnte. Samantha trat an die beiden heran. „Seine Absichten in allen Ehren, aber ich kenne die Tiefseemenschen. Nox mag anders sein, aber genau aus diesem Grund haben die Tiefseemenschen ihn verstoßen und sie werden sich niemals mit den Landmenschen einigen. Ebenso wenig wie die Hochseemenschen.“ Sie funkelte Steven böse an. „Und dich mag ich nicht, du hast mich entführt und tust so, als wär nichts gewesen! Lass Gibbli in Ruhe!“
Der Oceaner grinste. „Ich will meinem Mädchen doch nichts Schlimmes, im Gegenteil. Ich helfe ihr.“
Samantha blickte ihn zweifelnd an. „Ach. Und wobei?“
Gibbli nahm einen tiefen Atemzug. Sie wollte Samantha nicht in die Sache mit hineinziehen. Am Ende zwang er sie noch, dieses idiotische Spiel mitzumachen.
„Was willst du?“, fragte sie zähneknirschend, bevor Steven Samantha antworten konnte.
Der Oceaner wandte sich ihr wieder zu. „Ich will, dass du mich begleitest.“
Gibbli steckte ihr EAG in ihre Tasche zurück. „Wohin?“
„Zunächst auf die Mara.“
„Die Mara liegt in einem Hangar der Meeresakademie. Sie wurde von Jack konfisziert.“
„Ganz recht. Und ich brauche die Mara für ... eine Sache. Wir werden sie also stehlen. Und du hilfst mir dabei.“
„Ich komme mit!“, rief Samantha dazwischen. „Bo hat mir von dem U-Boot erzählt, ich will es sehen. Ich habe einfach das Gefühl, etwas tun zu müssen. Am liebsten würde ich Nox hinterher schwimmen, aber das will er nicht.“
Gibbli blickte sie überrascht an, als Samantha sofort anfing, einige Dinge aufzusammeln, die sie mitnehmen wollte. Wie konnte sie ihre Meinung über Steven so schnell ändern?
„Das wird Sky nicht gefallen“, murmelte Gibbli an Steven gewandt. Er wäre sicher enttäuscht von ihr. Die Mara damals zu bergen war schon grenzwertig gewesen, aber es verstieß ganz sicher gegen das Gesetz, das U-Boot jetzt zu kapern. Sie wusste, was Sky von Verbrechen hielt, besonders vom Stehlen fremden Eigentums.
„Lass den Kapitän Kapitän spielen. Wenn er zurück ist, sind wir längst da draußen.“
„Jack wird sie bestimmt bewachen lassen“, wandte Gibbli ein.
„Und du denkst, ich komme mit diesen Witzfiguren nicht klar? Deine zopfige Menschenfreundin begleitet uns auch.“
„Ich-“, setzte Gibbli an, doch er sprach schnell weiter.
„Und dieser Menschenführer hat die meisten seiner Soldatchen am Fuße der Stadt positioniert. Dort oben gibt es nicht mehr viele, die meine Mara bewachen könnten.“
„Ich komme-“
„Einige Dinge, die ich dir besorgen soll, von dieser Liste, warten direkt auf der Mara.“
„Ich komme ja-“
„Und es ist deine Aufgabe. Du musst sie annehmen oder die Konsequenzen über dich ergehen lassen. Und ich versichere dir, dieses Mal wirst du mehr als nur Schmerzen verspüren. Die Sache mit dem Lötkolben war absolut nichts dagegen!“
„Jetzt halt endlich die Klappe!“, schrie sie ihn an. „Ich komme ja mit, okay?“
„Okay.“
„Ich bin bereit“, sagte Samantha neben ihnen. Sie trug eine Decke, in die sie verschiedene Dinge eingewickelt hatte.
Steven grinste zufrieden.
„Sicher, dass du nicht oben bleiben willst?“, fragte Gibbli zweifelnd. Sie schlichen durch die Gänge der Stadt, um den Steg zu erreichen, der sich fünf Stockwerke unter ihrem Lagerplatz befand. Die Sache fing an, gefährlich zu werden.
„Und mit eurem elitären Kapitän allein bleiben? Nein. Ich mag seine bestimmende Dominanz nicht besonders. Ich frage mich allerdings, warum ihr ausgerechnet auf diese Mara wollt“, gab Samantha zurück.
„Sie ist wichtig. Das ist sie“, sagte Steven und beugte sich vorsichtig um die nächste Ecke. „Die Mara ist ein ganz besonderes U-Boot. Oh ja. Und ich muss es wissen, ich habe sie-“
„Du hast sie nicht gebaut“, unterbrach ihn Gibbli leise. „Du hast keine Ahnung, wie man etwas baut.“
„Es gibt einen Unterschied zwischen können und wollen.“, erwiderte er mit beleidigter Miene. „Ich habe sie entwickelt und die Konstruktionspläne erstellt. Die Physik, all die Technologien dahinter ausgearbeitet. Eine perfekte Mischung technischer Errungenschaften verschiedenster Völker. Von allen das Beste. Und dazu meine eigenen, genialen Erfindungen. Die langweilige Arbeit sie zusammenzubauen überließ ich natürlich Rod. Zum Teil jedenfalls. Ich sagte ihm, was er zu bauen hatte.“ Der Oceaner bedeutete Samantha, einen breiten Hauptweg zu durchqueren und voraus zu rennen.
„Wieso ich?“, fragte sie.
„Weil ich ein Genie bin. Ich bin schlau, oh ja.“
„Was soll daran schlau sein, wenn du den Weg besser kennst als wir?“, fragte Samantha wieder.
„Damit ich nicht rückwärts laufen muss. Da sähe ich doch dämlich aus und ich sehe immer gut aus, merkt euch das.“ Nachdem ihn auch Gibbli verständnislos ansah, fügte er hinzu: „So habe ich euch im Blick und kann eingreifen, falls Soldaten auftauchen.“
Samantha zuckte mit den Schultern. „Meintetwegen“ Sie schlich um die Ecke in den Hauptweg hinein.
„Nicht in diesen, nicht diesen“, murmelte Steven vor sich hin. „Nicht in- und sie ist in den falschen Gang.“ Samantha auf der gegenüberliegenden Seite drehte sich zu ihnen um. Steven fuchtelte wild mit den Armen, um ihr zu deuten, sie sollte noch einen Quergang weiter schleichen.
Angespannt fuhr Gibbli über die Rillen im Metall. Ihre Finger folgten den eingravierten Schriftzeichen, die sich überall winzig klein über die goldenen Wände erstreckten. „Ich verstehe den Aufbau dieser Stadt nicht. Warum habt ihr nicht einfach alles in die Felsen geschlagen?“, fragte sie leise und beobachtete Samantha, die jetzt wieder aus dem Gang heraus schlich, zurück in den Hauptweg. „Warum dieser Aufwand? Dieser riesige Hohlraum und die Kegelform?“
„Oca sind sehr auf Ästhetik und Materielles bedacht.“ Auch Stevens Blick folgte Samantha, während er sprach. „Im Gegensatz zu den Mog ist ihnen ihr Auftreten unglaublich wichtig. Und wie du siehst, habe ich mich hervorragend daran angepasst. Ich sehe perfekt aus, oder?“
Gibbli rollte mit den Augen und wollte sich gerade ein passendes Schimpfwort für ihn überlegen, als zwei Soldaten aus einem anderen Seitengang in den langen Hauptweg einbogen. Erschrocken blickte Gibbli zu Samantha, doch die schaffte es gerade noch zwischen zwei Gebäuden zu verschwinden.
„Da haben wir das Desaster!“, regte sich Steven leise auf. „Das kommt davon, dass der Kapitän uns zu braven Jungs erziehen will. Jetzt trauen sie sich schon wieder hier hoch. Der Tiefseemensch sollte unbedingt wieder anfangen, sie zu fressen, wenn er zurückkommt.“
„Wenn wir die Mara erreichen, was hast du dann vor?“, flüsterte Gibbli und blickte misstrauisch zurück, während Steven die Soldaten im Gang vor ihnen beobachtete.
„Stell keine Fragen, die ich nicht beantworten möchte und ich erzähle anderen nicht von Dingen, die du sie nicht wissen lassen willst“, antwortete er konzentriert.
Gibbli dachte niedergeschlagen an Stevens Namen auf ihrem Rücken. „Ich hasse dich“, flüsterte sie.
„Ich bin mir sicher, du liebst mich, mein Mädchen. Jeder liebt mich. Sie sind vorbei. Los, jetzt du.“ Der Oceaner winkte mit der Hand in Richtung des Weges hinein.
Gibbli warf ihm einen giftigen Blick zu, dann rannte sie los. Nervös blickte sie sich um und wurde dabei immer schneller. Heftig atmend erreichte sie den ersten Seitengang und rannte weiter zum nächsten, in dem Samantha wartete. Sie schlitterte vorbei an einer Maschine mit einer Konsole. Orange Kontrolllämpchen leuchteten auf und zeigten irgendetwas an, was sie nicht lesen konnte. Eine Schnalle ihrer linken Tasche um ihren Oberschenkel verhedderte sich an einem abstehenden Hebel der Maschine. Quietschend rückte der Hebel ein Stück nach unten. Gibbli wollte sich festhalten und abbremsen. Sie stolperte. Währenddessen rutschte auch noch ein Schraubenzieher aus ihrer Werkzeugtasche! Er flog durch die Luft und prallte mit klirrendem Geräusch direkt vor ihr Gesicht. Noch bevor Gibbli aufstehen konnte, hörte sie Stiefel auf Metall in schneller Folge aufschlagen.
„Pack sie!“, schrie einer der Soldaten.
Steven stand plötzlich hinter einem und hielt ihn fest.
„Nicht!“, schrie Gibbli.
Bevor irgendjemand etwas tun konnte, nahm der Oceaner mit nur einer Hand den Kopf des Soldaten und schlug ihn mit einem fürchterlichen Geräusch gegen die Wand. Gibbli lief es eiskalt den Rücken hinab. Dem Knacken nach zu urteilen, hatte er den Schädel zertrümmert. Einfach so, als würde der Soldat nichts wiegen! Ein Teil seiner blutigen Hirnmasse klebte an der Gebäudemauer und rann zwischen den oceanischen Schriftzeichen hinab. Der andere Teil lag verstreut am Boden beim Rest seines Körpers. Rote Sprenkel bedeckten Stevens Oberkörper. Verdammt, so sah es also aus, wenn der Oceaner tatsächlich jemanden verletzen wollte. Er hatte sich bei ihnen allen wirklich zurückgehalten.
„Wäh, abscheulich, fremdes Blut.“ Angewidert blickte Steven an sich hinab.
„Passt auf!“, rief Samantha von Weitem.
Gibbli warf sich herum und erblickte den anderen Soldaten. Sie kroch rückwärts und stieß gegen eine Mauer aus goldenem Metall. Der Soldat streckte seine Hände nach ihr aus. Noch ein winziges Stück und er würde sie berühren! Irgendwo blitzte es silbern auf. Ein leises Zischen schoss durch die Luft. Kurz bevor der Mann sie erreichte, erstarrte er. Im nächsten Moment fiel er direkt vor ihre Füße. Hastig zog sich Gibbli auf die Beine. Aus seinem Rücken ragte der Griff eines Messers. Völlig außer Atem vor Schreck, hob sie ihren Kopf. Abyss kam auf sie zugestapft und in aller Ruhe zog er sein Messer aus der Leiche.
Wild mit den Händen fuchtelnd, trat Steven näher. „Das ist deine Schuld, Mädchen! Wenn du nicht so ungeschickt wärst, hätten sie uns nicht gesehen! Und du beschränkter Mensch!“, fuhr er Abyss an, der seelenruhig daneben stand. „Ich hätte den zweiten lebend gebraucht! Jetzt muss ich noch einen finden! Eine tote Hand nützt mir doch nichts!“
„Verschon mich mit deinen kranken Experimenten“, murmelte Abyss, ohne ihn anzublicken.
Gibbli schluckte. Wenn er wüsste, wofür sie die Hand verwendet hätte ... Doch auch sie hatte nicht erwartet, dass Steven so schnell vorgehen würde mit seiner Aufgabe und schon gar nicht, wenn sie dabei war.
Der Oceaner sprach weiter auf ihn ein. „Ich wollte den Rest von diesem Menschlein verschließen und entkommen lassen! Er sollte die anderen warnen, damit nicht noch mehr von ihnen hier auftauchen!“
Abyss ignorierte den Oceaner und wischte das Blut auf der Klinge an der Kleidung des Soldaten ab. „Du enttäuscht mich“, sagte er leise.
Gibbli fühlte, wie etwas in ihr zerbrach, als seine grauen Augen sie dabei traurig musterten. Sie öffnete den Mund, wusste aber nicht, was sie sagen sollte. Ihr Kopf schien wie leer gefegt, als hätte jemand ihr Gehirn durch einen Wasserentsalzer laufen lassen. Sie hatte ihn enttäuscht?
„Wie kannst du es wagen, mich einfach zu ignorieren? Ich spreche mit dir, Mensch!“, rief Steven theatralisch und drängte sich zwischen Gibbli und Abyss.
„Wie könnt ihr es wagen, ohne mich hier runter zu geh’n!“, fuhr Abyss ihn an.
„Du warst nicht da“, sagte Gibbli, in der Hoffnung, dass es wie eine Entschuldigung klang. Er hatte recht, sie hätte ihm wirklich Bescheid geben sollen, denn das hier würde sicher länger dauern.
„Ja genau, du warst nicht da!“, wiederholte Steven und Gibbli hätte am liebsten eine Faust in ihn gerammt. In Anbetracht des halb zermatschten Kopfes neben seinen Füßen ließ sie es lieber bleiben. Sie nahm sich vor, ab sofort noch mehr Abstand zu ihm zu halten.
„Vielleicht wollte ich allein sein, um deine bescheuerte Fresse nicht mehr ertragen zu müssen“, fauchte Abyss ihn an.
„Dann darfst du dich aber auch nicht beschweren, dass wir dich nicht mitnehmen!“, sagte Samantha unerwartet und blickte angewidert auf die beiden Soldaten am Boden.
Gibbli fühlte sich elend. Abyss hatte schon wieder gemordet. Das durfte nie wieder passieren! Es ging ihr weniger um die toten Männer. Mehr darum, dass es ihre Schuld war, dass die beiden Soldaten sie ertappt hatten. Gibbli musste sich ändern. Sie würde nie wieder so tollpatschig sein. Hätte sie nur mehr von diesen dummen Sportkursen besucht!
„Ich hörte euch reden“, sagte Abyss leise und fixierte dabei Gibbli mit einem Gesichtsausdruck, den sie nicht zu deuten vermochte.
Sofort beschleunigte sich ihr Herzschlag. Was hatte er mitbekommen? Wusste er von dem Spiel? Sie versuchte sich daran zu erinnern, über was genau sie mit dem Oceaner gesprochen hatte. Abyss hasste doch Geheimnisse.
Steven schnaubte genervt. „Oh wie beeindruckend Mensch, du besitzt Ohren, ich bin ja so stolz auf dich! So unglaublich stolz! Und jetzt? Willst du sie mir ausreißen? Willst du, dass ich einen Kopfstand für dich mache? Ich kann das gut, ja, das kann ich.“
„Zwei Worte Goldie, Mara und stehlen.“ Während er sprach, ließ er Gibbli nicht aus den Augen.
Stevens Miene änderte sich schlagartig und er musterte Abyss berechnend. „Sprich weiter, Mensch.“
„Ihr habt Sky nichts von eurem Vorhaben erzählt.“
„Die Frage ist nicht, was der Kapitän darüber denkt. Was denkst du darüber, mein Freund?“, fragte der Oceaner.
„Ich denke, ich würde dir am liebsten ein Auge rausreißen und drauf treten. Würde sich gut neben dem halben Gehirn dort machen.“
Steven grinste und sagte dann theatralisch: „Das wäre nicht nett, nein. Jemand sollte dir Manieren beibringen. Ich könnte machen, dass du ihm Gesellschaft leistest, ja das-“
„Steven, die Mara! Wir stehlen die Mara“, zischte Gibbli verzweifelt.
Ihr war klar geworden, wenn der Oceaner wollte, konnte er sie alle jederzeit umbringen. So kindlich er sich verhielt, wenn man ihn zum Feind hatte, gab es nichts, was ihn aufhalten konnte. Steven musterte sie überrascht. Dann nickte er strahlend und betrat den Gang, der zum Steg in den Felsen hineinführte. Düster und etwas erleichtert starrte sie ihm nach. Gut, dachte Gibbli, ein Problem erledigt. Sie hatte es satt, dass die beiden ständig stritten und dieser Blick von Abyss brachte sie fast um den Verstand. Sie wollte das doch nicht! Dachte er, das tat sie mit Absicht? Ihre Angst wandelte sich plötzlich in Wut. Angriffslustig wandte sie sich Abyss zu. Sie hatte es auch satt, sich ständig zu fragen, was er von ihr dachte. Warum sah er sie seit kurzem nur immer so vorwurfsvoll an? Diese neue Art an ihm ließ sie immer wieder darüber nachdenken, was sie tun konnte, um ihn glücklich zu machen. Aber falls er von dem Spiel wusste, dann war es jetzt ohnehin egal. Er würde sie hassen. Und falls nicht, nun, dann hasste er sie auch, weil sie ohne ihn gegangen war.
„Was ist? Kommst du mit oder nicht?“, fragte Gibbli und ihre Stimme hörte sich aggressiver an, als sie es beabsichtigt hatte.
Abyss öffnete verdutzt den Mund und verharrte für einen Moment. Sein bohrender Blick ließ sie erschaudern. Sie war zu weit gegangen, sicher würde er sie gleich angreifen! Doch Gibbli irrte sich.
„Mit dir würde ich überall hingehen“, sagte er leise.
Er wandte sich von ihr ab, rauschte an Samantha vorbei und folgte Steven. Samantha zuckte mit den Schultern und ging hinter ihnen her. Etwas baff lauschte Gibbli den Schritten der drei. Dann beeilte sie sich, die junge Frau einzuholen.
„Verrätst du mir, wie du es schaffst, dass diese Monster tun, was du sagst?“, murmelte Samantha ihr zu.
„Ich hab keine Ahnung“, flüsterte Gibbli zitternd und fragte sich, was hier soeben passiert war. Mit einem Kribbeln im Bauch hallten Abyss‘ Worte in ihrem Kopf wieder: Mit dir würde ich überall hingehen.
Gibblis Kopf dröhnte, als sie aufwachte. Es kam ihr so vor, als seien sie eben erst in die Rettungskapsel gestiegen. Ein Rauschen drang in ihre Kugel. Sie schnallte sich vom Sitz ab und blickte sich um. Samantha hing bewegungslos im zweiten Sitz. Sie schien noch bewusstlos zu sein von der abrupten Druckveränderung, sonst jedoch keinen Schaden erlitten zu haben. Die junge Frau atmete normal und Gibblis EAG zeigte keine auffälligen Werte. Gibbli schlug auf den Öffnungsmechanismus und die runde Kugel, in der sie sich befanden, teilte sich entzwei. Das Rauschen wurde lauter. Es kam ihr vor, als würde sie in eine andere Atmosphäre eintauchen. Ein dichter, gelblicher Schleier lag in der Luft. In der Ferne konnte sie blasse Äste erkennen, als lösten sie sich auf. Gibbli dachte erst, ihre Augen wären kaputt, dann erinnerte sie sich daran, dass es sich um so etwas wie Nebel handeln musste. Sie hatte davon im Unterricht gehört, jedoch so etwas noch nie selbst erlebt. Gibbli taumelte nach draußen. Sofort versanken ihre Stiefel in matschigem Sand. Überall erstreckten sich lange Schlingen und Äste von verdorrten Bäumen in alle Richtungen. Soweit die eingeschränkte Sicht es erlaubte, konnte sie nichts Lebendes entdecken. Die Pflanzen hatten jegliche Art von Blättern verloren. Keine Blüten, keine Tiere, gar nichts. Nur braune Überreste von was auch immer und schlammiger Boden unter ihren Füßen. Die Luft war feucht. Gibbli hätte erwartet, dass es nach Salz roch, wie in Räumen mit kaputten Filteranlagen, doch hier oben stank alles nach Schwefel. Ein paar Meter weiter erblickte sie Stevens Umrisse. Er kniete vor einer großen Gestalt. Offensichtlich hatte er Abyss aus seinem Sitz gezogen. Sie stutzte. War da ein Riss in der anderen Kugel? Irgendwie wirkte sie verformt.
Steven schien sie zu bemerken und blickte auf. „Bei uns ist Wasser eingedrungen. Die Rettungskapsel war nicht mehr intakt. Keine Sorge Mädchen, mir geht es blendend.“
Erschrocken kämpfte sich Gibbli durch den Matsch zu ihnen durch, vorbei an Wurzeln, an denen sie immer wieder mit der Kleidung hängen blieb. Fast wäre sie ausgerutscht. Ihre Hände schlangen sich um ein Stück rostigen Metalls, das aus dem Boden ragte. Gibbli kletterte über ein mit Gummi beschichtetes Rad. Dunkel glaubte sie sich an irgendein Fortbewegungsmittel der Landmenschen über dem Wasser zu erinnern. Sie hatte von diesen vierrädrigen Kästen gehört, irgendwann in einem der Geschichtskurse. Ein paar Schritte vor den beiden blieb Gibbli stehen. Steven nahm angeekelt ein lebloses Handgelenk zwischen zwei seiner Finger und hob es an. Ein paar Tropfen rannen über Abyss‘ blasse Haut.
„Pfff, Menschen.“ Der Oceaner ließ seine Hand wieder los. Brauner Dreck spritze über Abyss‘ Arm, als dieser am Boden auftraf. „Halten nichts aus. Die kleinste Druckveränderung macht ihnen zu schaffen.“
Gibbli hatte das Gefühl zu fallen, als sie Abyss‘ schlammbespritztes Gesicht betrachtete. Ihr blieb der Atem weg. Warum war er nur nicht zu ihr in die Kapsel gestiegen? Sie hätte ihn nicht so anfahren sollen. Aber er schien sich wieder beruhigt gehabt zu haben. Wäre er nicht wütend auf sie gewesen und wäre vielleicht mit ihr geflogen statt mit Steven, würde jetzt Samantha dort liegen. Wieder fühlte sie sich schuldig, es war nicht fair Samantha gegenüber das zu denken. „Ist er ...“, sie wagte nicht weiterzusprechen.
„Nein, leider nicht. Lass ihm ein paar Minuten. Zu meinem Bedauern wird er wohl schon bald erwachen und meine Ohren mit unhöflichen Worten verschmutzen.“
Erleichtert atmete Gibbli auf. Er lebte.
Steven stand auf und blickte sich um. „Als wäre hier nicht schon genug Dreck. Eklige Pampe! Irgendetwas ist hier passiert.“
Gibbli öffnete entsetzt ihren Mund und wich vor ihm zurück. Eine eisige Kälte ging von dem Oceaner aus. Sie spürte ihn wieder! Steven hatte wieder Macht über ihre Emotionen! War er sich dessen bewusst? Was immer daran schuld war, dass in Ocea nichts mehr funktionierte, besaß hier über dem Meer keinen Einfluss. Schnell trat sie weitere Schritte zurück und beobachtete Steven, der über einen Baumstamm kletterte und nach etwas suchte.
Plötzlich wehten ihre Haare beiseite, wie vom Zug eines Belüftungssystems. Sie drehte sich herum, um die Ursache zu finden, und reckte ihren Kopf in den dunklen Himmel empor. Beeindruckend, wie hoch war dieser Raum hier eigentlich? Die Oberseite schien irgendwo in einem grauen Nichts zu enden.
„Was ist das? Diese Luftmaschine? Wo ... steht sie?“, fragte Gibbli unsicher, als ein weiterer Luftzug ihr Gesicht streifte.
„Wind“, murmelte Steven und wühlte im Schlamm herum.
Gibbli schloss die Augen und atmet die stinkende Luft ein. Auch wenn es hier nicht gut roch, es kam ihr vor, als würde ihr jemand die Luft geradezu entgegen werfen. Mitten ins Gesicht, durch ihre Nase, in die Lunge hinein. Wie ein wundervolles Geschenk.
„Ich mag Wind“, flüsterte sie.
„Das freut mich, ich mag dich auch, mein heißer Wüstenwind“, meinte Steven im vorbeigehen.
Wieder zuckte sie zusammen vor seiner Kälte, doch der Oceaner schien noch immer beschäftigt zu sein. Er wühlte am Boden herum und warf hin und wieder ein Stück Metall zur Seite.
Fasziniert betrachtete Gibbli die Umgebung. Sie mochte den großen Hohlraum, in dem die Stadt Ocea errichtet worden war. Doch das hier war unglaublich! Ihr war nicht klar gewesen, wie viel Luft es auf diesem Planeten gab. Sie hatte zwar über den schier unendlichen Raum über dem Wasser gelesen und in ihrem Geologiekurs Bilder von der Oberfläche studiert, doch diese gaben nicht im Entferntesten wieder, wie weit sich hier alles erstreckte. Es war ihr immer eher wie ein Traum aus einer anderen Welt vorgekommen. Erst jetzt verstand sie, dass das hier alles echt war!
„Hier ist es!“, rief Steven. „Ah ja. Das hab ich gut gemacht.“
Im nächsten Moment spürte sie, wir ihr der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Gibbli krallte sich gerade noch an einer Wurzel fest, als alles plötzlich absackte. Unter ihr hatte sich eine Öffnung gebildet! Sie versuchte, sich am Rand des Loches nach oben zu ziehen. Aber alles war so glatt und Gibbli rutschte ab. Sie fiel! Keine Sekunde später wurde sie von zwei sehnigen Händen gepackt. Sie starrte direkt in seine goldenen Augen, als er sie hochzog. In diesem Moment wurde ihr klar, dass er es spürte. Sein gemeines Grinsen bestätigte ihr, dass er wusste, dass seine Macht zurückgekehrt war. Aber zu ihrem Erstaunen wandte sich der Oceaner ab.
„Komm schon Mädchen, das musst du dir ansehen!“ Steven schwang sich über den Rand der Öffnung im Boden und begann hinein zu klettern.
Gibbli erkannte, dass an der Seite kleine Metallgriffe befestigt waren. Unsicher zog sie ihr EAG hervor und leuchtete nach unten. Es ging nicht weit hinab. Der Oceaner hatte schon den Boden erreicht. Sie warf einen kurzen Blick zu Abyss, der noch immer bewegungslos im Schlamm lag. In ihrem Kopf tauchten seine traurigen Augen auf, sein vorwurfsvoller Blick, den er sicher wieder aufsetzen würde, sobald er aufwachte. Dann siegte ihre Neugierde und sie folgte Steven.
Wie konnte man Klettern nicht hassen? Vorsichtig suchte Gibbli die Wand nach den Griffen ab. Die Oberfläche war nass und rutschig. Kleine Pilze wuchsen an den Rändern und bedeckten teilweise das Metall. Kurz vor dem Ende rutschte sie ab und stieß mit dem Ellbogen gegen einen der Griffe. Sie landete mitten auf dem Bauch. Gibbli keuchte auf, während sie sich aufrappelte, und rieb sich den Arm. Das würde eine schöne Beule geben! Unter ihr zog sich eine Art Gitter den Gang entlang, zum Teil von Erde und Sand bedeckt. Zitternd stand sie auf und leuchtete mit ihrem EAG in die feuchte Höhle hinein. Dort am Ende stand Steven und drückte einen Hebel nach unten. Um sie herum leuchtete Licht auf. Eine Maschine schien hochzufahren. Gibbli trat weiter ins Innere des kleinen Raumes. Durch die Decke drangen Tropfen und hinterließen feuchte Rinnsale an den metallenen Wänden. Links und rechts von ihnen ging es weiter hinab. Diese beiden Vertiefungen waren gefüllt mit dreckigem Wasser. Gibbli blickte nach oben. Aus den zwei braunen Seen ragte jeweils eine dicke Eisenstange, die an der Decke entlang, wie eine Art Schiene über ihren Kopf hinweg führte und sich in der Mitte des Weges traf. Sie trat unter der Schiene hindurch auf Steven zu, der auf der anderen Seite vor einer Konsole stand. Er schlug auf eine Schaltung ein und Funken stoben daraus hervor.
Sie duckte sich und ging näher heran. „Das ist nicht das, was ich denke, was es ist“, flüsterte Gibbli.
„Dein zauberhaftes Gehirn denkt oft seltsame Dinge. Aber wenn du willst, kann es alles sein, was du denkst. Es hat jedenfalls zu wenig Energie“, stellte der Oceaner fest und betätigte mehrmals einen Hebel. Nichts passierte.
„Eine alte Meeresgondel!“
„Nur, wenn du es schaffst, ihr Leben einzuhauchen, Mädchen. Wenn nicht, ist das hier nichts weiter als antiker Schrott“, sagte Steven.
Noch während er sprach, öffnete Gibbli die Konsole.
„Ich krieg sie ganz sicher wieder hin“, murmelte sie in Gedanken versunken. Eine willkommene Ablenkung vom Oceaner. Er schien mehr Interesse daran zu haben, die Mara zu erreichen, als mit Gibbli zu spielen. Das war gut. Sie kontrollierte fasziniert die Drähte, die dahinter verlegt waren. „Das sind richtig alte Kabel!“
Steven strahlte sie an. „Ich wusste, dass dir das hier gefallen wird!“
Ohne auf ihn zu achten, suchte Gibbli in ihren durchweichten Taschen nach den isolierenden Handschuhen, doch eine Stimme lenkte sie davon ab.
„Hey! Goldklumpen! Wo ist dieses Inselparadies, von dem du uns vorgeschwärmt hast?“
Stevens begeisterter Gesichtsausdruck erlosch, als hätte man ihn wie eine Kerze ausgepustet. „Ich hätte ihn wenden sollen. Vielleicht wäre er dann mit dem Kopf nach unten im Sand erstickt.“
Er drehte sich mit verächtlicher Miene herum. Ein wenig erinnerte seine Bewegung dabei an einen Tänzer mit arrogant erhobenen Armen. Abyss stapfte näher heran. Dann schüttelte er den Kopf wie ein Hund. Nasser Schlamm spritzte durch den Raum von seinen Haaren und landete auf Stevens Gesicht. Der Oceaner wischte ihn mit einem missbilligenden Laut von den goldenen Wangen.
„Ich mag diese Dinger nicht“, meinte Abyss leise, während er misstrauisch die Schiene betrachtete, die sich direkt über seinem Kopf an der Decke entlang erstreckte.
Gibbli erinnerte sich an die Geschichte, die er ihr damals im Gefängnis der Akademie erzählt hatte, wie er seine Eltern verlor, seine ganze Umgebung, sein zu Hause mit allem, was er je besessen hatte. Und jetzt waren die Vulkane erneut ausgebrochen, dachte sie. Es würde Wochen dauern, bis sich der Staub legte. Wenn er sich überhaupt wieder legte. Schade, denn sie hätte gerne die Sonne gesehen.
Steven funkelte Abyss böse an. „Die Welt hat sich verändert, Mensch. Ihr könnt die Asche in der Luft riechen.“
„Abyss, ich brauche einen deiner EAGs“, sagte Gibbli, bevor die beiden wieder anfingen zu streiten. Sie erinnerte sich daran, dass er auch eines vom Mönch besaß. „Wir können die Kristalle darin benutzen, um die Energie der Konsole aufzuladen.“
Abyss zog ihn wortlos hervor und zögerte einen Moment.
„Die Daten gehen nicht verloren. Auf der Mara kann ich neue Kristalle einbauen, wenn du möchtest“, sagte sie.
„Nein, schon gut.“ Abyss gab ihn ihr.
Schweigend sahen die beiden Männer zu, wie Gibbli das EAG des Mönchs zerlegte und die kleinen Steinchen heraus zog. Sie leuchteten halbdurchsichtig in einer hellblauen Farbe. Man musste aufpassen, dass man sich nicht an ihnen schnitt. Vorsichtig legte Gibbli die scharfkantigen Kristalle neben die Abdeckung der Konsole.
„Ich bin mir nicht sicher, ob die Kristalle dafür ausreichen“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu den anderen.
Abyss nahm einen und drehte ihn nachdenklich zwischen den Fingern. „Ich hab so ein Ding. Etwas größer, aber“, er suchte in seinem Mantel und zog dann einen dicken, azurblauen Kristall hervor, „sieht fast genauso aus.“
Gibbli machte große Augen. Der Stein, den ihr Abyss mürrisch entgegenhielt, hatte fast die Ausmaße ihre eigene Faust! „Woher hast du ... weißt du, was der Wert ist?“
„Ich nehm an viel“, sagte er emotionslos. „Weißt du, vor einigen Jahren, war da eine Frau mit langen Locken. Hm, etwas dunkler als deine. Sie trug diese seltsame neue Mode. Diese kurzen Kleider mit den winzigen Mustern.“ Gibblis Begeisterung über den Kristall erstarb, als Abyss sie prüfend musterte. „Diese gewisse Lady schien davon auszugehen, damit ein Vermögen zu machen. Glücklicherweise konnte ich sie davon überzeugen, ihn mir zu schenken.“
„Wie nett. Und weiß sie davon, dass sie ihn dir schenkte?“, fragte Steven interessiert.
Abyss grinste wortlos. Gibbli nahm genervt einen tiefen Atemzug. Sie hielt ihr EAG über seine Hand mit dem Kristall, um die Aufladung zu überprüfen. Diese Energie würde ganz sicher ausreichen.
Während sie weiter arbeitete, sagte Steven provozierend: „Hast du sie bestochen? Erstochen? Liegt deine Lady jetzt unter der Erde? Wie hast du sie umgebracht?“
Seine Lady ... als würde jede Frau Abyss gehören. Gibbli versuchte, ihn zu ignorieren. Konnte der Oceaner nicht still sein? „Sei still und hilf mir lieber!“, fuhr sie ihn an.
Steven lachte. „Hm, nein, keine Lust. Dann würde ich dir ja den ganzen Spaß rauben. Du machst das schon. Also, mein blasser Menschenfreund? Erzähl‘s mir, was hast du mit ihr angestellt?“
Abyss antwortete mit unschuldigen Augen: „Willst du verrecken?“
„Interessant, wie? Zeig es mir, Mensch.“
„Hm. Nein, ich befürchte, so etwas mache ich nicht ... mit Männern. Oder Individuen, die ... deinen Namen tragen.“
Gibbli hatte sich gerade an den spitzen Drähten zur Energieversorgung zu schaffen gemacht und stach sich dabei fast in ihre Finger. Verdammt, wusste er es? Sie nahm einen tiefen Atemzug, um sich nichts anmerken zu lassen. Vorsichtig verband sie die Drähte mit den kleinen Steinchen aus dem EAG des Mönchs.
„Was du vor ihrem Tod mit ihr gemacht hast, kümmert mich nicht. Ich studiere den Tod. Er interessiert mich. Also, wie? Sag es mir“, verlangte der Oceaner wieder.
„Nun, ich bin ein charmanter Kerl, mit sehr überzeugenden Muskeln ... ähm, Worten meinte ich. Netten Typen wie mir überlässt man so was doch gerne freiwillig.“ Abyss lehnte sich an die Konsole, während Gibbli ihm grob den Kristall aus den Händen riss. „Sei vorsichtig. Das ist ein gefährlicher Gegenstand, könnte jederzeit explodieren, dafür braucht man starke Hände.“
Gibbli warf ihm einen giftigen Blick zu. „Energiekristalle sind so gefährlich wie ein flauschig weiches Kissen.“
„Das wusste meine Lady aber nicht. Und ja, flauschig weiche Kissen hatte sie einige in ihrem Schlafzimmer.“
Gibbli schluckte, doch an dem Kloß in ihrem Hals änderte das nichts. Sie griff nach dem Lötkolben und versuchte, sich auf die Kabel vor ihr zu konzentrieren.
„Danke für den Kristall Abyss, nichts zu danken Gibbli, hab ich doch gern gemacht“, murmelte er sarkastisch. Dann fügte er kalt hinzu: „Mit Kissen kann man übrigens gut Leute ersticken.“
„Erstickt also. Nett.“ Mischte sich Steven lachend wieder ein.
„Dämlicher Goldklumpen. Ich sagte, kann. Man muss die Opfer nicht immer abkratzen lassen, um zu bekommen, was man will“, gab Abyss zurück. „Sie hat mir höflich für ihre Rettung gedankt und mir neben diesem hochexplosiven blauen Teil da sogar noch ein Essen spendiert.“
„Wie eklig. Und du bist natürlich hungrig über sie hergefallen, Mensch.“
Gibbli verbrannte sich die Finger am geschmolzenen Lot. Sie keuchte auf, atmete tief durch und schloss die Augen. Kurz hatte sie das Gefühl, Abyss‘ alarmierten Blick auf sich zu spüren. Doch sie wagte es nicht, den Kopf zu heben und setzte die heiße Spitze wieder an. Warum konnten die beiden nicht draußen weiter reden? Sie wollte nicht hören, was er mit irgendwelchen Frauen gemacht hatte.
„Vielleicht bin ich das“, sagte Abyss leise. „Vielleicht auch nicht. Vielleicht war diese unterbelichtete Fratze einfach froh, diesen extrem gefährlichen Kristall an einen heldenhaften Bombenentschärfer der Eliteflotte abgeben zu dürfen.“
„Du. Ein Held“, wiederholte Steven abfällig. Er schüttelte den Kopf und beugte sich zu Gibbli hinab, um einen heraushängenden Draht zu begutachten. Wie zufällig steckte er ihn in einen der Isolatoren, kurz bevor sie ihn aus Versehen mit einem anderen berührte.
„Ja, ich. Ich bin ziemlich gut im Spielen eines Bombenentschärfers, du hirnverbranntes-“
„Hört auf!“, rief Gibbli gereizt.
Abyss verschränkte knurrend die Arme.
Sie schubste Steven beiseite, weil er ihr im Weg stand. Dabei war ihr gleichzeitig bewusst, der er ihr wahrscheinlich gerade das Leben gerettet hatte. Die Frequenz des Drahtes hatte sich so absolut falsch angefühlt, zusammengetroffen mit dem anderen Stück und ihrer eigenen Haut wäre das einer Auflösung gleichgekommen. Ein tödlicher elektrischer Schlag. Es wurmte sie, dass sie das erst jetzt bemerkte. War ihm klar, was er getan hatte? Falls ja, ließ er es sich nicht anmerken.
„Also wenn du ein Held bist, dann bin ich ein ... Schöpflöffel! Verstehst du? Wahahaha, ja genau, Steven ist ein Schöpflöffel!“, rief der Oceaner und seine Stimme überschlug sich, als wollte er ihm unbedingt etwas Bedeutendes erklären.
Abyss öffnete den Mund, schien sich dann aber zu entscheiden, dass dies keiner Entgegnung würdig wäre, und schloss ihn wieder.
Wieder schob sie Steven beiseite, der vor einer Schalttafel stand, die sie überprüfen wollte und dann noch einmal, als er scheinbar halb träumend mit seinen goldenen Fingern ein Kabel von irgendwo herauszog. Sie nahm es genervt und steckte es zurück in den Kasten. So gut er sich mit theoretischer Physik auskannte, von der praktischen Umsetzung hatte er scheinbar absolut keine Ahnung. Oder er wollte keine davon haben.
„Ich sehe nach der Menschenfrau“, murmelte der Oceaner, nachdem Gibbli die Schaltkästen verschloss.
Sie kaufte ihm diese Ausrede nicht ganz ab, um zu verschwinden, aber war ihr ganz recht, dass er verschwand. Tat er nur so, als würde er sich mit Materie nicht auskennen oder hatte er tatsächlich keine Ahnung von Technik? Die Drähte schienen jetzt jedenfalls alle zusammenzupassen.
Als Steven die Leiter nach oben kletterte, stieg die Temperatur sofort ein wenig. Gibbli spürte ihn zwar noch dort draußen, aber seine gefrierende Aura nicht mehr in ihrer direkten Nähe zu haben, war eine Erleichterung. Mit was sie nicht gerechnet hatte, war die drückende Stille, die sich zwischen ihr und Abyss in dem höhlenartigen Raum ausbreitete. Er stand direkt hinter ihr auf dem Weg und verfolgte alles, was sie tat. Links und rechts von ihm befanden sich die beiden mit Wasser gefüllten Vertiefungen. Mit einem unbehaglichen Gefühl konzentrierte sich Gibbli wieder auf die Konsole, die sich jetzt endlich einschalten ließ. Diese Lady aus seiner Geschichte schlich sich in ihren Kopf. Sie stellte sich vor, wie Abyss sich mit ihr unterhielt und sie um den Finger wickelte. Warum hatte er das nur erzählen müssen? Er hatte das mit Absicht getan, kam es ihr plötzlich in den Sinn. Gibbli hielt in ihrer Arbeit inne.
„Du wolltest meine Reaktion testen“, rutschte es ihr heraus. Sie wagte nicht, sich zu ihm umzudrehen.
Es dauerte etwas, bis er antwortete. „Es scheint mir, du kennst mich mittlerweile zu gut. Ich habe mein ganzes Leben nach jemandem wie dir gesucht.“
Gibbli fühlte sich unwohl bei diesen Worten. Abyss tat nichts ohne Plan. Sky war es, der ihr das gesagt hatte. Der Kapitän kannte ihn. Gibbli hingegen hatte keine Ahnung mehr, wer dieser Kerl hinter ihr eigentlich war. Sie kam sich selbst Abyss gegenüber plötzlich fremder vor. Als stände er jetzt noch weiter weg. Schweigend machte sie sich wieder an die Arbeit und ging die Funktionen im Programm an der Konsole durch. Ihre Finger bestätigten die Einstellungen. Der Mechanismus startete und es quietschte kurz. Die Räder neben den Maschinen begannen sich zu drehen. Dann setzte ein leises Surren ein, wie von kleinen Flügelschlägen.
„Es funktioniert“, flüsterte Gibbli.
Abyss trat auf sie zu und betrachtete die Konsole, vor der Gibbli stand. „Wie lang wird es dauern, bis die Gondeln vom Meeresboden hier ankommen?“, fragte er tonlos.
Gibbli erschauderte. Er war undurchschaubar, wenn er so emotionslos sprach. „Vielleicht ein paar Stunden. Aber die Maschine muss erst warm laufen, bevor sie von unten aus starten. Diese Art von Technik wird heute gar nicht mehr gebaut. Es ist ein sehr altes Modell. Ich schätze, es dauert mindestens einen halben Tag.“
Als sie verstummte, spürte sie erneut ein unbehagliches Kribbeln. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass er ihr etwas verheimlichte. Es war ihr schon seltsam vorgekommen, dass er mit Steven in die Rettungskapsel gestiegen war, statt mit ihr. Mit seinem größten Feind! Abyss schwieg und starrte noch immer auf die Konsole. Jetzt war es das monotone Surren an den Gondelschienen, das den Raum erfüllte. Hin und wieder vermischte sich das Geräusch mit dem leisen Ploppen von Tropfen, die auf einem der beiden Wasserbecken aufprallten. Gibbli trat einen Schritt zurück. Er bewegte sich nicht.
„Abyss?“, fragte sie nach einer Weile vorsichtig. „Sollen wir oben warten?“
Eigentlich wollte sie nicht zu Steven. Aber Samantha war vielleicht schon aufgewacht. Es war sicher nicht ratsam, sie mit dem Oceaner alleine zu lassen. Niemand sollte mit diesem Monster alleine sein.
„Wenn du meinst.“ Doch er machte keine Anstalten die Höhle zu verlassen.
Ohne sie anzusehen, öffnete Abyss den Mund und schloss ihn wieder. Offensichtlich dachte er über etwas nach und Gibbli ahnte, dass es sich um etwas handelte, was ihm nicht gefiel, so traurig wie er dreinblickte. Diesen Ausdruck an ihm mochte sie gar nicht. Gibbli wurde den Eindruck nicht los, dass irgendetwas zwischen ihnen stand, seitdem sie heute Morgen aufgewacht waren. Gestern, als sie vom Planeten Oca zurückgekehrt waren, hatte er sich noch nicht so seltsam verhalten.
Plötzlich drehte er sich ihr zu. Ein paar Sekunden schien sein Blick sie zu durchdringen, als würde er erwarten, dass sie etwas tat.
„Abyss ...“ Gibbli wusste nicht, was sie sagen sollte.
„Du zitterst“, durchbrach er ihre Gedanken. Es kam Gibbli mehr wie eine nüchterne Feststellung vor als Besorgnis. „Vielleicht finden wir oben etwas trockenes Feuerholz.“
Er drehte sich um.
„Abyss warte, das ist doch-“
Er hob die Hand, ohne sich umzudrehen, wie Sky es manchmal tat, wenn er wollte, dass sie verstummten.
Gibbli hielt inne.
Langsam drehte Abyss sich wieder um. Dann presste er die Lippen aufeinander und zog sie zu einem gezwungenen Lächeln. „Ich hab was für dich.“ Er holte etwas aus einer Tasche seines Mantels. Dann sprach er weiter, ohne sie anzusehen. „Sky hat mir erzählt, heute ist dein Geburtstag.“
Überrascht riss sie die Augen auf. Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht! War es wirklich heute? Sie hatte die Tage im Gefängnis der Mog nicht gezählt.
„Hab halb Ocea danach abgesucht. Hier.“ Er streckte die Hand aus und hielt sie ihr entgegen.
Mit offenem Mund nahm Gibbli das kleine Fluggerät.
Abyss beobachtete sie wieder und sagte: „Damit hast du uns aus dem Gefängnis geholt.“
„Ich dachte, ich hätte es verloren“, flüsterte Gibbli. „Steven nahm es mir ab, er hat erzählt-“, sie brach ab, als sich seine Miene verdüsterte.
Sie senkte den Kopf und betrachtete das kugelförmige Gebilde in ihren Händen. Ihr kleines Glühwürmchen. Das zweite hatte der alte Brummer sicher längst zerstört. Kurz überlegte sie, ob sie es fliegen lassen sollte. Aber Gibbli verwarf den Gedanken schnell wieder. Am liebsten hätte sie Abyss von der Kälte erzählt, von dieser Wolke aus drohender Gefahr, die jetzt erneut von dem Oceaner ausging. Doch sie wollte nicht schwach erscheinen und irgendetwas in Abyss‘ traurigen Augen hielt sie davon ab. Seine abwehrende Haltung, wenn nur jemand Stevens Namen erwähnte, zeigte, wie sehr er absolut alles verabscheute, was mit dem Oceaner zu tun hatte. Andererseits redete er inzwischen sogar mit ihm. Doch sicher nur auf Skys Befehl hin. Gibbli erschauderte bei dem Gedanken daran, wie sehr Abyss sie hassen würde, wenn er je erfuhr, dass ausgerechnet sein größter Feind sich auf ihrem Rücken verewigt hatte.
„Danke Abyss, danke, dass du es gefunden hast“, sagte er leise.
„Ich-“
„Schon gut. Ist okay.“ Sein Ton verriet Gibbli, dass, worum immer es gerade ging, etwas ganz und gar nicht okay war. „Wenn ich mich nicht mögen würde, wahrscheinlich würd ich’s dann an deiner Stelle auch nicht sagen wollen. Vergib mir. Ich falle in meinen eigenen Abgrund, Gibbli. Und vielleicht, komme ich dieses Mal nicht mehr hoch. Also ... halte es gut in Erinnerung.“
Bevor sie etwas erwidern konnte, fuhr er herum und ließ sie sprachlos stehen.