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Kapitel 10: Der Sportkurs (Bis in die tiefsten Abgründe)

Gibbli lehnte am Geländer und starrte auf das Frontfenster der Mara. Sky hatte die das U-Boot sicher nach Ocea gebracht und angedockt. Sie befanden sich etwa auf halber Höhe der Stadt. Der mit Wasser gefüllte Hohlraum in den Felsen um sie herum war mit goldenen Platten ausgekleidet. Alles kam ihr verlassen und ruhig vor. Doch der Schein trog. Denn draußen lauerten die Soldaten in ihrem Lager am Fuße der kegelförmig aufgebauten Stadt.
Gibblis Finger spielten mit der kleinen Sonne in ihren Händen. Sie hatte den Uniformanstecker auf dem runden Tisch gefunden. C.D. stand auf der Rückseite. Cervantes Djego. Offensichtlich hatte Sky ihn dem Spion irgendwann unbemerkt abgenommen.
„Sag mir, was dir Sorgen bereitet“, verlangte er und trat neben sie an das Geländer.
Gibbli erschrak. Sie hatte ihn gar nicht kommen hören. Der Anstecker rutschte ihr aus den Fingern. Sky fing ihn auf, bevor er in die Zentrale hinunter fallen konnte. Sie blickte ihn unsicher an, dann wanderte ihr Blick wieder hinab, auf die drei Sitze. Das Rascheln von Töpfen drang zu ihnen hoch. Samantha stand irgendwo unten beim Küchenbereich und backte tatsächlich Kuchen. Sie hatte in der Galerie hinter Gibbli einige Beeren gesammelt und Vorräte aus verschiedenen Kisten in den Lagerräumen aufgetrieben, die Sky während ihres Aufenthalts in der Akademie wieder gefüllt hatte. Nach einer Weile wurde ihr klar, dass er noch immer eine Antwort erwartete.
„Sie werden versuchen, sich gegenseitig umzubringen“, begann Gibbli leise. „Steven wird ihn provozieren. Abyss wird ihn angreifen. Dann wird Steven ihn zermatschen.“
Sky schüttelte den Kopf. „Nein. Steven will niemanden von uns töten. Wenn er das wollte, hätte er es längst getan. Er mag es nicht, allein zu sein und beschützt die Crew. Er will nur Aufmerksamkeit. Steven ist wie ein kleines Kind, das immerzu spielen möchte.“
„Ich mag seine Spiele nicht“, murmelte Gibbli.
„Abyss auch nicht. Aber er wird Steven ebenfalls nicht umbringen. Ich weiß nicht warum, doch aus irgendeinem Grund akzeptiert er ihn. Er hasst ihn, aber dennoch billigt er seine Anwesenheit. Vielleicht liegt es daran, dass oceanische Technologie nicht mehr funktioniert, dass er keine Macht mehr hat. Über dich. Über alles.“
„Ich kenne den Grund nicht. Aber das ist er nicht.“ Gibbli dachte an die toten Soldaten. Seine Stärke hatte Steven nie verloren. Und was auch immer die elektromagnetischen Felder in Ocea blockierte, war dort oben auf der Insel und auch hier auf der Mara nicht vorhanden.
„Wenn sie sich nicht gegenseitig die Köpfe einschlagen, will ich mich nicht beschweren. Ich werde noch herausfinden, was sie davon abhält.“ Sky musterte sie berechnend. „Es hat auch seinen Vorteil. Solange die beiden gegeneinander arbeiten, sind sie beschäftigt. Stell dir vor, was sie für einen Blödsinn anstellen könnten, wenn sie sich zusammenschließen würden.“
Das war in der Tat eine gruselige Vorstellung, dachte Gibbli.
„Was ist dort oben passiert, auf der Insel? Abyss wollte mir nichts erzählen.“
Gibbli schwieg.
Sky nickte. „Du also auch nicht und Sam schweigt ebenfalls. Sie redet sich damit raus, dass sie das nichts angehe, weil sie nicht zur Crew gehört. Und aus Steven wird man nicht schlau. Er verschweigt etwas. Er mag Unsinn reden und ablenken, doch anders als Abyss sieht man ihm sofort an, wenn er Dinge verheimlicht. Ich bringe ihn noch dazu, es zu offenbaren. Es ist etwas Wichtiges und ich bin mir sicher, es hat mit diesen Rissen zu tun. Aber das muss warten, bis er zurückkehrt.“
Gibbli war zwar nicht glücklich darüber, dass Abyss fort war, aber Steven durfte sich gerne Zeit lassen auf seiner Mission zu den Tiefseemenschen. Andererseits wollte sie ebenfalls mehr über diese Risse erfahren.
Der Kapitän fuhr sich über seine Dreadlocks und ballte dann die Faust. „Okay, ich bin es leid, immer alles aus euch herauszuquetschen. Ich befehle dir ein letztes Mal, sage mir, was dort oben geschehen ist. Sam hat recht, ich bin nicht berechtigt, sie dazu zu zwingen. Dich schon. Also?“
Gibbli dachte nach. Zum Gift würde sie kein Wort verlieren. „Ich hab seine Macht wieder gespürt. Über mich. Seine Kälte“, sagte sie nach einer Weile. „Oceanische Technologie funktioniert wieder. Jedenfalls dort oben. Und auch hier, auf der Mara.“
Sky schien besänftigt. „Ich musste zwar manuell andocken, aber das U-Boot scheint tatsächlich nicht betroffen zu sein. Draußen in der Stadt ist alles beim Alten, erstarrt. Ich war vorhin in der oberen Etage, um ein paar Sachen zu holen.“ Er betrachtete Djegos Anstecker und wiederholte nachdenklich: „Ich finde schon noch heraus, warum Abyss Steven akzeptiert.“ Der Kapitän tat es Gibbli gleich und stützte sich am Geländer ab. „Es war oceanische Technologie. Nichts anderes kann ihn so verletzen. Du hast ihn so zugerichtet.“
Gibbli schloss für einen Moment die Augen. Sie hatte gehofft, das würde nicht zur Sprache kommen. „Ja“, sagte sie leise und verspürte das Bedürfnis, sich in den Maschinenraum zu verziehen.
„Bist du dir im Klaren, was das bedeutet?“, fragte er ohne sie anzusehen.
Seine Auffassung von Gerechtigkeit kannte mittlerweile jeder. Sie nickte und krallte sich an den goldenen Stangen fest, als ihre Finger zu zittern begannen. Er würde Steven rächen.
Sky drehte den Uniformanstecker in seinen Händen. „Du bringst mich in eine missliche Lage.“
Ihr war doch nichts anderes übrig geblieben! Der Oceaner hatte wieder das Messer genommen. „Er hat mich bedroht und Abyss, weil …“ Sie brach ab. Sky sollte nicht erfahren, dass Abyss dieses Gift getrunken hatte. Fast hätte sie es verraten! Sie wandte sich ihm zu. „Was kann ich tun, damit er nicht mehr an mein Messer rankommt?“
Sky drückte nachdenklich die spitzen Enden seines Bartes zusammen, dann nahm er einen tiefen Atemzug und nickte. Offensichtlich war er zu einer Entscheidung gelangt, was er mit ihr anstellen würde. „Gleiches mit Gleichem, Gibbli. Das gilt auch für dich. Du hast jemanden aus meiner Crew verletzt. Also stelle dich darauf ein, dass ich dich nicht schonen werde. Es wird Zeit für dein Training. Und wegen dem Messer, etwas zu tragen, mit dem du nicht umgehen kannst, ist gefährlicher als nichts mit dir zu führen. So, wie du momentan handelst, wirst du immer wieder von Gegnern mit deinen eigenen Waffen überrascht werden. Trage es nicht bei dir.“
Sie schluckte. Das kam nicht in Frage.
„Oder lasse ihn denken, dass du es nicht mehr bei dir trägst. Verstecke es an einer anderen Stelle. Und werde dir endlich deiner Waffe bewusst. Dir muss zu jeder Zeit klar sein, dass du eine besitzt. Vergiss es nicht und entziehe dich ihm. Beobachte seine Bewegungen und weiche von vorneherein in den richtigen Momenten unauffällig aus. Bewege dich scheinbar zufällig so, dass dein Gegner immer ungünstig steht und nicht sofort auf deine Waffe zugreifen kann. Aber vor allem, lerne das Messer zu führen. So etwas solltest du doch eigentlich wissen. Wer hat dich unterrichtet?“
„In was unterrichtet?“, fragte sie unsicher.
„Der Kampfkurs. Mir ist klar, über den Basiskurs hinaus bist du nicht gegangen.“
Gibbli dachte nach und biss sich auf die Unterlippe. Sie erinnerte sich an eine ältere, stämmige Frau. Das würde dem Kapitän nicht gefallen. „Also …“, begann sie langsam, „ich … glaube, sie hieß … ähm, Tanner.“
„Tanner. Unmöglich. Vielleicht in deinen Anfangsjahren. Tanner wurde in meinem Abschlussjahr an der Akademie eingestellt und das ist mehr als zwanzig Jahre her. Aber soweit ich mich richtig erinnere, starb sie vor acht oder neun Jahren.“
„Vor acht. Ich war sieben, als sie starb.“
Sky betrachtete Gibbli abschätzend. „Du behauptest nicht ernsthaft, dass du seither kein einziges Mal den Kurs besucht hast!“
„Ich war dort! Also … zwei Mal.“ Sie fuhr sich nervös über die Arme und zuckte dann beschämt mit den Schultern. „Nachdem Miss Tanner die Akademie verlassen hat, trug ich mich nachträglich in ein paar ihrer Unterrichtseinheiten ein.“
„Ein paar? Der Basiskurs umfasst über zweitausend Einheiten!“
„Es ist nicht aufgefallen. Ich hab mir gerade so viele Punkte eingetragen, dass mein Basiskurs als abgeschlossen galt.“
„Du hast dich also in die Datenbank gehackt.“ Sky seufzte. „Und das mit sieben Jahren. Natürlich kann eine Tote nicht mehr prüfen, ob du tatsächlich dort warst. Zwei Mal. Das nachzuholen, grenzt an Wahnsinn.“ Er schüttelte den Kopf. „Mein Vater hat den Kurs vor ihr geleitet. Sie war ein Witz gegen ihn. Wenigstens anfangs hättest du es so leicht gehabt. Tanner vergab Punkte alleine für Anwesenheit.“
„Ich wollte mehr Zeit für die Technikkurse haben. Außerdem fängt man im Basiskurs mit Laufen an. Ich … mochte das nie besonders.“
„Einmal darfst du raten, was du die nächsten Stunden machen wirst.“
Gibbli schüttelte ungläubig den Kopf. „Nein.“
„Tage. Und wenn es sein muss, Wochen. Mach dich fertig, wir gehen in die Stadt.“
„Du sagtest, dass du mir schießen beibringst!“
„Das werde ich. Sobald du bereit dafür bist.“
„Ich bin bereit!“
„Nein.“ Sky lachte. „Nein, das bist du nicht.“ Sein Ausdruck wurde wieder ernst. „Du bist rebellischer geworden, das ist wahr. Noch vor ein paar Wochen hattest du Angst, überhaupt mit mir zu sprechen. Mir ist klar, dass es nicht ohne Einfluss bleibt, mit wem du zusammen lebst. Aber bevor du lernst anzugreifen, musst du lernen, dich zu verteidigen. Und um dich zu verteidigen, besitzt du schlicht zu wenig Ausdauer.“
Gibbli öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Er hatte recht, das konnte sie nicht bestreiten. Auch nicht die Tatsache, dass Abyss und Steven sie beeinflussten. Und das Spiel, dieses dämliche Spiel.
„Abyss behauptet immer, Schießen sei etwas für Feiglinge. Aber ich versichere dir, kein Ausbilder bei Verstand, wird jemandem eine Schusswaffe geben, der nicht bereit dafür ist zu töten. Hier.“ Er streckte ihr den Uniformanstecker entgegen. „Gib ihn Djego zurück, wenn du ihn siehst.“
„W… wann soll ich ihn sehen?“, stotterte sie.
„Glaub mir, er wird auftauchen. Das tut er immer. Dieser Junge ist süchtig nach Informationen.“

 

Das Training gestaltete sich absolut katastrophal. Am ersten Tag und auch in den darauf folgenden. Sky ließ Gibbli laufen. Immer und immer wieder, um die Plattform an der Spitze Oceas herum, durch die Gänge der Stadt, überall. Irgendwann schickte er sie nur noch los und kümmerte sich nicht mehr darum, ihr zu folgen, sondern blieb einfach auf der Mara zurück.
Nach ein paar Tagen begannen sie mit dem Training im Nahkampf. Mit seinem Versprechen, er würde sie nicht verschonen, behielt er recht. Gibbli war viel zu langsam. Sie schaffte es nicht, den einfachsten Schlägen auszuweichen. Samantha versuchte, sie aufzumuntern, und gab zu bedenken, dass sie das versäumte Training von Jahren nicht in nur ein paar Tagen nachholen konnte. Doch das änderte nichts daran, dass Gibbli das Gefühl hatte, einfach mies darin zu sein. Der Kapitän sprach es nicht direkt aus, dennoch ließ er sie spüren, dass er es für hoffnungslos hielt. Er war kein Ausbilder, sondern jemand, dem normalerweise bereits ausgebildete Soldaten vor die Nase gesetzt wurden. Dagegen kam Gibbli nicht an.
„Steh auf!“, befahl er in einem Training, als sie wieder einmal regungslos am Boden liegenblieb.
Seit über zwei Stunden bemühte sie sich vergeblich, seinen Schlägen auszuweichen. Sie befanden sich auf der Plattform über dem obersten Stockwerk Oceas, zwischen den Konsolen, die um den Rand herum aufgebaut waren. Vor der Vorrichtung des ausgeschalteten Portals hatten sie genug Platz. Alle viere von sich gestreckt, lag Gibbli auf ihrem schmerzenden Rücken und rang nach Luft. Sie erinnerte sich nicht daran, jemals auf der Akademie jemanden gesehen zu haben, der nach dem Training so fertig war wie sie. Die Schüler jammerten hin und wieder. Aber keiner von ihnen war übersät von blauen Flecken gewesen und so schwach, dass sie kaum noch stehen konnten. Sie war sich sicher, dass Skys Training härter war als alles, was die Schüler auf der Akademie je in den Kampfkursen durchmachen mussten.
„Ich sagte, steh auf!“, fuhr er sie an und trat näher.
Gibbli rollte sich auf den Bauch und stemmte sich hoch, um dann wieder zu fallen. Verdammt tat das weh.
„Wehre dich!“
„Ich versuche es!“, brachte sie hervor.
„Nicht genug. Du bist jetzt mindestens fünf Male gestorben, alleine in der Zeit, in der du nicht aufgestanden bist. Gerade stirbst du ein sechstes Mal.“
Sie versuchte es noch einmal und kam taumelnd auf die Beine. Mit ihren Händen auf den Knien abgestützt, blieb sie vor ihm gebeugt stehen.
„Bereust du es?“
„Nein“, flüsterte Gibbli.
Sky gab ihr einen leichten Schubs mit einer Hand. Vor lauter Erschöpfung fiel sie wieder nach hinten.
„Bist du dir sicher? Ich werde dich so lange umwerfen, bis du nicht mehr aufstehen kannst. Das hier ist nicht die Akademie. Keine feststehenden Kurszeiten. Es ist zu Ende, wenn du kaputt bist.“
„Ich bin sicher“, krächzte sie und versuchte, sich erneut aufzustemmen.
Er blickte sie kopfschüttelnd an, als sie völlig entkräftet zurück auf den Boden fiel. Dann drehte er sich um und ging weg.
„Warte!“, keuchte Gibbli. „Nicht! Ich steh auf! Ich … schaff das!“ Doch sie kam nicht mehr hoch. „Ich schaff es“, flüsterte sie noch einmal, das kühle Metall unter ihren Wangen.
Eine halbe Stunde später zog sich Gibbli auf und kroch an den Rand der Plattform, um sich gegen eine Konsole zu lehnen. Noch immer etwas schwindlig betrachtete sie die Säulen, die zur Galerie über dem Portal führten. Ein Geräusch ließ sie plötzlich erschaudern. Gibbli hätte gedacht, allein zu sein. Kam Sky zurück? Nein, der Gang des Kapitäns klang nicht so schleichend. Skys Schritte waren fest und immer mit Ziel, nicht so vorsichtig wie die, die da auf sie zukamen. Erschrocken zog sie Abyss‘ Messer. Oh nein, dachte sie, als sie seine Gestalt erblickte. Seine rostroten Locken erkannte Gibbli schon von weitem. Ihr Herz schlug schneller. Er trat näher, darauf bedacht ihre Aufmerksamkeit zu erregen, denn sie war sich sicher, wenn er gewollt hätte, wären seine Schritte lautlos gewesen. Djegos Arme hingen links und rechts offen zu ihr gewandt. Es lag in seiner Absicht, dass sie ihn bemerkte. Ein paar Meter vor ihr blieb er stehen. Sein Blick streifte das Messer in ihrer Hand und er ging in die Hocke.
„Ich tu dir nichts. Ich bleibe hier und du dort drüben, einverstanden?“
Gibbli nickte nervös. Verdammt, sie musste schrecklich aussehen! Warum kam er ausgerechnet jetzt? Sie war hässlich und völlig fertig vom Training. Und er, mit diesen leuchtenden Augen wie die oberen Schichten des Meeres bei Tageslicht …
„Tu das nicht“, sagte er. „Lass es in deinen Händen.“
Erstaunt hielt sie inne. Sie hatte das Messer wegstecken wollen.
„Du weißt ja nicht, auf welcher Seite ich stehe, oder? Was würde dein Kapitän denken, wenn du so unvorsichtig bist?“
Er hatte recht! Wieso verhielt sie sich so dumm?
„Ich bin Djego“, sagte er freundlich. „Doch das weißt du sicher schon. Eigentlich Cervantes, aber in der Flotte sprechen sich die Leute ja mit Nachnamen an. Bis auf Jack natürlich. Also bin ich Djego.“
Gibbli begann zu schwitzen. Bestimmt roch er es. Verdammt, ganz sicher sogar, nach dieser katastrophalen Trainingseinheit. Wahrscheinlich sah er es auf ihrer Haut. Wie sich seine Haut wohl anfühlte?
„Du sprichst nicht viel, oder? Ich nehme einfach einmal an, du hast dich vorgestellt, Gibbli. So darf ich dich doch nennen? Du fragst dich sicher, wie ich hier her komme.“
Sie schwieg. Wie kam er überhaupt auf die Idee mit ihr zu reden? Und sie saß einfach dumm hier und starrte ihn an, wie ein aufgeblasener Kugelfisch! Sag was, dachte sie verzweifelt, doch kein Laut kam über ihre Lippen.
„Nun, ich kann gut klettern.“
Ja, so wie er aussah, bestimmt. Er war Elitesoldat. Sie war unsportlich. Gibbli war mies im Klettern. Wahrscheinlich noch schlechter als im Laufen.
„Ich habe dir etwas über mich verraten, jetzt wäre es nur fair, wenn ich etwas über dich erfahre, findest du nicht?“
„Okay“, flüsterte sie atemlos.
Wie dumm sich das anhörte. Die Wörter aus ihrem Kopf schienen nicht mehr im Stande zu sein, ihren Mund zu erreichen.
Djego grinste breit und die makellosen Zähne kamen zum Vorschein. „Wo hast du deinen fluchenden Liebhaber gelassen?“
Irritiert blickte sie ihn an. „Abyss ist nicht … mein …“ Ihr Herz begann lauter zu klopfen.
„Natürlich nicht, bitte verzeih mir, das war dumm von mir. Ein interessanter Name, Abyss. Aber du bist natürlich zu jung. Wie alt bist du, Gibbli?“
„15?“, sagte sie mit hoher Stimme. Es klang eher wie eine Frage, als eine Antwort. Reiß dich zusammen, dachte sie entsetzt. Wieso verriet sie ihm überhaupt ihr Alter? Nein, warum wollte er das überhaupt wissen?
„15 Jahre. Ist es möglich, dass wir irgendwann einen Kurs zusammen hatten? Ich bin nur vier Jahre älter. Hm, nein wohl eher nicht. An jemanden wie dich hätte ich mich erinnert. Also … für dein Alter bist du gut im Nahkampf, Gibbli.“
Verdammt, hatte er sie beobachtet? Wie lange tat er das schon? Moment, sie war gut? Wollte er sie verarschen? Was sollte das überhaupt heißen, er hätte sich an sie erinnert? Ihre Gedanken überschlugen sich.
„Entschuldige, es war nicht meine Absicht, dich in Verlegenheit zu bringen. Vielleicht können wir ja irgendwann zusammen trainieren, ich würde mich sehr freuen. Jetzt allerdings, sollte ich besser gehen. Jack ist noch immer außer sich vor Wut und sucht das Ding überall. Er sagte nicht was genau, aber ihr habt ihm da wohl etwas sehr Großes vor der Nase weggeklaut. Verrätst du mir, was es war?“
Zusammen trainieren?, dachte Gibbli verdattert. Mit ihm? War das sein Ernst?
„Nicht? Nun, das macht nichts. Es war mir eine Ehre, dich zu treffen, Gibbli. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.“
Sprachlos ließ er sie zurück. Es war ihm eine Ehre? Sie hatte sich doch so blöd verhalten! Und sie sah schrecklich aus! Und vor lauter Aufregung hatte sie auch noch völlig vergessen, ihm diesen sonnenförmigen Uniformanstecker zurückzugeben.

 

„Du siehst schrecklich aus“, bestätigte ihr Samantha zwei Stunden später.
„Ich weiß“, murmelte Gibbli niedergeschlagen. Sie saß neben ihr am runden Tisch in der Mara und begutachtete missmutig das Stück Garnelenkuchen, das ihr die junge Frau vor die Nase gestellt hatte. Sie mochte keine Garnelen.
„Nein, du weißt nicht, ich meine etwas ganz anderes!“, erwiderte Samantha aufgebracht. „Ich finde, euer Training geht zu weit.“
„Zu weit?“ Hier ging nichts zu weit! Sie musste noch viel stärker trainieren, vor allem, wenn sie irgendwann Djego gegenüber stehen sollte. Sie würde sich ja total blamieren!
„Sieh dich doch an! Er ist der Kapitän. Er darf dich nicht so zurichten, er sollte dir beibringen, dich genau gegen so etwas zu verteidigen. Ich werd ihm sagen-“
„Nein!“, unterbrach Gibbli sie. „Das ist meine Sache. Ich krieg das hin.“
Samantha blickte sie zweifelnd an.
„Ich meine … er … ist nur fair. Ich hab es verdient.“
„Verdient? Das sollst du verdient haben?“
„Das verstehst du nicht.“
„Niemand hat es verdient so geschlagen zu werden!“
„Du bist nicht hier aufgewachsen! Du hast keine Ahnung, wie das auf der Akademie funktioniert! Das hier ist nichts dagegen!“ Das war gelogen. Auf der Schule ging es zwar hart zu, aber gegen Skys Training war eher die Akademie ein Witz. Doch das würde sie Samantha sicher nicht unter die Nase reiben.
„Nein Gibbli, ich habe wirklich keine Ahnung davon.“
„Du hast gesehen, wie ich Steven verletzt habe. Sky muss so hart sein. Und … wie soll ich denn sonst je lernen, mich zu verteidigen?“
„Genau darum geht es doch, oder nicht? Du hast den Oceaner erwischt, so richtig! Du bist gut, du kannst dich auf deine Weise wehren. Mit Technologie. Du brauchst das hier doch gar nicht.“
„Und wenn sie nicht mehr funktioniert?“ So wie draußen, in der Stadt. Oder wenn Gibbli durch das Training verhindern könnte, dass so etwas überhaupt passierte? „Sky zeigt mir, wie ich ihm ausweichen kann. Ich will, ich muss das lernen. Er ist der Kapitän, er weiß, was er tut.“
„Bist du sicher?“
„Ja“, antwortete Gibbli stur und schob den Kuchen beiseite.
Das hier war zu viel. Sie würde stark werden und schlank und schön. Dieses ganze Essen machte sie nur dick. Stolz, dem Drang widerstanden zu haben, betrachtete Gibbli zufrieden den Teller. Samantha blickte sie traurig an, sagte jedoch nichts dazu. Sie seufzte, zog den Teller zu sich heran und schob sich ein Stück Garnelenkuchen in den Mund. Täuschte sich Gibbli, oder aß Samantha in letzter Zeit ziemlich viel?
„Bin ich hässlich, Sam?“, rutschte es ihr heraus.
Samantha hielt inne. „Hä? Natürlich nicht. Meinst du, wegen dieser beiden Frauen? Bless und Dixland? Die sind doch in der Flotte. Die haben jahrelanges Training hinter sich. Bist du deswegen so versessen darauf, dich zu verändern? Denkst du, dass es dir hilft, so wenig zu essen?“
„Hör auf damit! Ich bin nicht versessen!“
„Dann iss diesen Kuchen. Sky meinte, ich soll darauf achten, dass du genug isst.“
„Was ich esse, geht ihn nichts an!“ Gibbli schnaubte und fuhr Samantha dann gereizt an: „Und dich auch nicht!“ Sie fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Wie konnte man nur solche dicken Borsten haben? Grausam! Vielleicht sollte sie die Dinger einfach abschneiden? Ihr Blick fiel wieder auf Samantha und sie stutzte. „Sam? Weinst du? Ich … ich wollte dich nicht so anfahren. Ich meine … tut mir leid?“, fragte sie unsicher. Gibbli war es nicht gewohnt, dass jemand so auf sie reagierte. Sie redete ja mit kaum jemandem. Und wenn sie Abyss so anfuhr, dann schrie er einfach zurück oder sagte irgendetwas, um sie zum Lachen zu bringen.
Samantha schüttelte den Kopf. „Nein, schon gut, das ist nicht deine Schuld.“
Gibbli blickte sie fragend an. Sie hatte keine Ahnung, wie man jemanden aufmunterte.
„Es ist nur … wegen Nox. Ich will ihm etwas sagen, mit ihm reden, ich meine … er fehlt mir. Ich hoffe, es geht ihnen gut.“
Daran hatte Gibbli gar nicht gedacht. Das Training mit dem Kapitän hatte sie so abgelenkt, dass sie Nox und Bo völlig aus den Gedanken verloren hatte. „Sam?“, fragte sie vorsichtig. „Wenn du Sky noch mal fragst, ich meine, also er würde euch bestimmt in die Crew aufnehmen.“
Samantha hob den Kopf. „Nein, das möchte ich nicht. Und Nox auch nicht. Sky wollte das, aber wir haben sein Angebot abgelehnt. Und er wird es uns kein zweites Mal unterbreiten. Und das ist okay.“
„Warum?“
„Ich will zurück nach Hause. Verstehst du das? Nach Takkao. Ich mag die Tiefseemenschen und wenn man sie erst besser kennt, sind sie auf ihre Art wirklich nett und fürsorglich. Es ist nur … wir können nicht sofort zurück. Nox muss sie erst überzeugen, damit sie uns wieder aufnehmen.“
Gibbli nickte. „Wenn … also wenn ihr beide nicht hier sein wollt, warum führt Nox dann Skys Befehl aus?“
„Sky denkt, Nox sei ihm etwas schuldig, weil er ihn auf seinem U-Boot hier her mitgenommen hat.“
Wie Samantha diese Worte aussprach, ließ Gibbli aufhorchen. „Und … denkt Nox das auch?“
Sie erhielt keine Antwort.
„Sam? Wo ist Nox jetzt?“
Samantha schwieg.
„Er ist also nicht dort, wo der Kapitän ihn haben will. Sky sollte das wissen.“
„Nein!“, rief Samantha und sprang auf. „Du behältst das für dich!“
Gibbli sah die Tränen in ihrem Gesicht. „Okay“, sagte sie zögernd und fügte hinzu: „Wenn du ihm nicht erzählst, dass ich das Zeug hier nicht gegessen hab, sag ich Sky auch nichts.“
„Meinetwegen.“ Samantha setzte sich wieder. „Das Zeug wäre aber lecker“, flüsterte sie und nahm sich ein weiteres Stück vom Kuchen.

 

Am nächsten Tag schien es Samantha wieder besser zu gehen und Gibbli startete wie gewohnt mit dem Laufen. Noch bevor das Nahkampftraining mit Sky beginnen sollte, kam er zu ihr. Sie befand sich gerade auf dem zentralen Platz zwischen den drei Häusern in der obersten Etage Oceas, um sich etwas auszuruhen. Der Kapitän befahl ihr, mit ihm zu kommen. Wie sich herausstellte, hatte er ein Treffen vereinbart in einem der mittleren Stockwerke der Stadt. Sie traten in einen kleinen Raum. Gibbli hätte Djego erwartet oder Dixland mit dieser dämlichen, puppenartigen Frau.
„Mr. Plotz?“, fragte sie überrascht.
Vor ihnen stand tatsächlich Ilias Michael Plotz, stellvertretender schulischer Direktor und Leiter der Geologieabteilung.
„Kapitän Sky.“ Er hob den Kopf, als die beiden eintraten und hielt irritiert inne. „de Orange. Was … Wer hat dich so zugerichtet?“
„Ich trainiere sie.“
„Sky, verdammt! Sie ist ein Kind! Du kannst doch nicht-“
„Du hast nicht das Recht, mir zu sagen, was ich kann und was nicht. Und falls du es vergessen hast, wäre sie bei euch, wäre sie jetzt tot.“
Plotz seufzte. „Ich hoffe, es ist wichtig. Wenn Jack mich hier in der Stadt antrifft, bin ich meinen Job los!“
„Es ist wichtig. Gibbli, gib mir dein EAG.“
Gibbli holte es umgehend aus ihrer Tasche und fragte sich, was Sky damit wollte.
Der Kapitän hielt ihn Plotz entgegen. „Hier sind Daten. Aufzeichnungen über ein Erdbeben und einer Anomalie. Ich will, dass du sie für mich auswertest.“
Richtig, sie hatte ja den Riss oben in der Stadt untersucht, dabei aber leider nichts neues herausgefunden, außer dass der Riss irgendwie mit der zweiten Anomalie in Verbindung stand, welche sie mit der Meeresgondel passiert hatten.
„Es ist verboten ein fremdes EAG zu berühren.“
„Als wenn das jetzt noch jemanden interessiert, sieh sie dir an!“
Plotz zog seinen EAG und steckte beide zusammen, um die Dateien zu überspielen. Dann öffnete er eine Datei davon. „Das sind Messungen. Warum bestellst du mich hier runter? Ich besitze solche Daten bereits und noch einige mehr.“
„Mehr?“, fragte Sky erstaunt. „Das ist gut. Ich benötige weitere Informationen, Plotz!“
Der Mann gab Gibbli das EAG zurück. „Na schön, ich lasse dir in den nächsten Tagen alles zusammenstellen, was wir haben. Aber lass um des Meeres Willen das Mädchen in Ruhe!“

 

Die Worte des Geologielehrers kümmerten den Kapitän nicht im Geringsten. Nachdem Plotz gegangen war, stiegen sie zur Plattform hinauf und trainierten weiter. Auch dieses Mal schaffte Gibbli es nicht, auch nur einem Schlag abzuwehren. Sie hielt die Arme falsch und reagierte viel zu langsam. Sicher hatten sich die unzähligen Kratzer und blauen Flecken auf ihrer Haut mittlerweile zu einem einzigen, gigantischen Farbklecks verwandelt. Und ihr war klar, dass der Kapitän sich noch zurückhielt. Wenigstens achtete er darauf, ihre Knochen nicht zu brechen.
„Arme hoch Gibbli, schütze dein Gesicht!“, ermahnte er sie.
Wieder lag sie auf dem Rücken. Sie hielt sich angespannt die Hände vor ihre Augen.
„Nicht so. Wie willst du deinen Gegner sehen, wenn du dich selbst blind machst? Nimm die Hände da weg und steh auf!“, knurrte Sky.
Gibbli bewegte sich nicht. Sie hätte es gekonnt. Sie war noch fit. Aber sie würde nie an die Soldaten der Elite herankommen. Nicht jetzt und nicht in fünfzig Jahren. Sie würde nie so aussehen und würde nie so stark und schnell werden. Und sie würde nie Djego gegenübertreten können, ohne vor Scham im Boden zu versinken.
„Hörst du mir zu? Ich sagte, steh auf!“ Sky trat an sie heran, als Gibbli schwieg. „Was ist los? Wir haben noch nicht einmal richtig angefangen.“
„Ich kann das nicht mehr“, sagte sie leise.
„Warum?“
„Ich will nicht mehr.“
„Du hörst dich an wie Abyss. Das ist kein Grund. Sag mir warum.“
Sollte sie zugeben, dass das hier alles keinen Sinn ergab? Nein, das wäre schwach. Außerdem wusste er das doch längst! Warum ritt er dann noch darauf herum?
„Warum, Gibbli?“
„Du hörst dich auch an wie Abyss! Er hört nie auf, mir Fragen zu stellen.“
„Ja, weil er stur ist und nicht weiß, wann man lieber schweigen sollte. Jetzt zum Beispiel ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür, also sprich mit mir.“
„Abyss hat mir gesagt, Gehirne neigen dazu, Dinge zu glauben, wenn sie begründet klingen und es spielt keine Rolle, ob diese Gründe der Wahrheit entsprechen. Also denk dir doch einfach einen Grund für mich aus.“
„Und darum solltest du ihm nicht trauen.“ Sky hockte sich neben sie auf den Boden. „Das sind genau die Dinge, von denen ich immer hoffe, dass du sie dir nicht von ihm abschaust. Sag mir, was du denkst. Du kannst mir vertrauen, Gibbli.“
„Das tu ich.“
„Das klingt nicht überzeugend.“
„Das tu ich, weil du der Kapitän bist?“
Sky schmunzelte. „Schluss mit diesem Unsinn. Ich belüge dich nicht, Gibbli und ich versichere dir, ich werde keinen Grund erfinden, der nicht der Wahrheit entspricht. Ich bin ehrlich zu dir. Lass uns eine Pause machen und reden.“
„Worüber?“, fragte sie. Sie redeten ja schon. Hatte er jetzt doch ein schlechtes Gewissen wegen Plotz? Nein, auf so etwas würde Sky nie hören.
„Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass ich dich nicht wie ein Kind behandeln werde. Dazu gehört, dass du mit Tatsachen klar kommen musst. Und Tatsache ist, du hättest nie auch nur die geringste Chance in die Flotte aufgenommen zu werden. Wenn du noch auf der Akademie wärst, würde kein Flottenführer auch nur darüber nachdenken, dir eine Chance zu geben, nicht einmal auf dem langsamsten, kleinsten, schäbigsten U-Boot. Du bist nicht für die Elite geeignet.“
Das war absolut niederschmetternd. Diese Worte klangen schlimmer, als wenn er sich plötzlich um ihren Zustand kümmern würde, weil er möglicherweise zu fest zuschlug. „Ich weiß das. Du weißt das. Alle wissen das. Ich will nicht darüber reden.“
„Aber das machen wir jetzt. Du verstehst das nicht richtig. Nimm sofort die Hände aus dem Gesicht.“
Gibbli tat es zögernd.
„Dein Vorteil ist, du bist bereits in meiner Crew. Und ich bin Kapitän der Mara und kein Flottenführer mehr.“
Das machte es nicht besser. Sie war es nicht wert, hier zu sein. Gibbli starrte in die Luft nach oben.
„Weißt du, warum ich es zulasse, dass du hier bist? In meiner Crew? Sag es mir.“
„Weil …“, sie hielt inne. Ja, warum war sie eigentlich hier? „Weil ich mich gut mit oceanischer Technologie auskenne?“
„Sieh dich um! Diese Technologie funktioniert momentan nicht. Du wärst demnach nutzlos.“
„Ich bin nutzlos“, wiederholte sie tonlos.
„Falsche Antwort. Setz dich auf!“, befahl Sky.
Sie bewegte sich nicht.
„Hey! Was muss ich tun, um dich zu provozieren? Du widersprichst, wenn ich es nicht erwarte und wenn ich will, dass du es tust, auf Aussagen, auf die mich jeder normale Mensch anschreien würde, stimmst du mir einfach zu und gibst dich völlig selbst auf. Jetzt setze dich gefälligst auf!“
Widerwillig stützte sie sich am Boden ab und drückte sich hoch. Dann wurde ihr klar, mit wem sie hier sprach und setzte sich rasch aufrecht hin. Mit einem schlechten Gewissen, wie sie sich hier gerade gehen gelassen hatte, blickte sie auf ihre Hände. Sie mochte ja seine Ehrlichkeit. Und die Wahrheit war eben nicht immer schön.
„Ich bin kein normaler Mensch“, sagte Gibbli leise.
„Natürlich nicht und ich brauche keine normalen Menschen in meiner Crew. Darum frage ich dich noch einmal. Warum denkst du, lasse ich dich hier sein?“
„Ich … ich bin eine gute Technikerin?“, fragte sie unsicher. Im Grunde hatte sie keine Ahnung, was genau sie tat. Sie setzte einfach die Teile zusammen, die ihrem Gefühl nach zusammen gehörten.
„War das eine Frage?“
„Ich bin eine gute Technikerin.“
„In diesem Bereich bist du viel zu gut für die MA und das, egal, um welche Art von Technologie es sich handelt. Und zwar genau weil du nicht denkst wie die anderen. Du fühlst. Und was die Theorie angeht, hast du ja einen hervorragenden Lehrer. Steven mag kindisch sein, aber er ist gut in dem, was er tut. Er kann dir Dinge beibringen, von denen die Kursleiter der Meeresakademie nur träumen. Aber das ist nicht der einzige Grund.“
„Ist es nicht?“
Sky griff nach ihren Arm und bog ihn schmerzhaft nach hinten. „Tut das weh?“
Gibbli biss die Zähne aufeinander. „Ja.“
„Jammerst du deswegen herum?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Natürlich nicht. Du bist fertig, weil du nicht schaffst, was ich von dir verlange oder besser gesagt, was du wolltest, dass ich von dir verlange. Das Kampftraining war im Grunde dein Wunsch.“ Er ließ ihren Arm los. „Du bist langsam. Schwach. Meine Schläge treffen dich wie ein Magnet, als würdest du sie leidenschaftlich sammeln statt ihnen auszuweichen. Aber über körperliche Schmerzen würdest du nie auch nur ein Wort verlieren. Du erträgst sie. Du hältst sie aus.“
„Das ist meine Schuld“, stammelte sie. „Meine Reflexe sind zu-“
„Gibbli, du steckst Schmerzen weg, da würde ausnahmslos jeder Mann und jede Frau aus meiner ehemaligen Flotte schreiend zusammenbrechen.“
War das sein Ernst? Und was, wenn sie das einmal nicht mehr schaffen würde? Sie wollte gerade etwas erwidern. Doch plötzlich sprang Sky auf. Er packte sie an den Schultern und zog sie mit sich ein paar Schritte zur Seite. Währenddessen griff er mit der anderen Hand nach seinem Strahler.
Gibbli wirbelte herum. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie in sein braungebranntes Gesicht blickte.
„Schon gut, alles ist gut, keine Panik, ich bin es nur, Kapitän!“, rief Djego mit erhobenen Händen.
Sky ließ seinen Strahler sinken. „Wie kommst du hier hoch? Okay, dumme Frage …“, fügte er sofort hinzu. „Sag mir, was du hier willst.“
„Was ich will? Ich … wollte zu euch“, sagte er langsam. Gibbli fiel auf, dass er vorsichtig sprach, als würde er jedes Wort genau abwägen. „Ich habe eine Nachricht abgefangen, bevor Jack an sie herankam. Ich wollte sie euch bringen. Schon … seit einer Weile. Aber ich habe euch nicht gefunden. Ihr wart nicht hier. Habt ihr die Stadt verlassen?“
„Nein. Nur den Standort geändert“, antwortete Sky. Die Mara erwähnte er nicht. Offensichtlich wusste Djego auch nichts von dem Treffen mit Ilias Plotz. „Gib mir die Datei.“
Djego holte einen Informationsstecker aus einer Innentasche seiner Uniform hervor.
Sky nahm den Stick nachdenklich an sich. „Du hast sie gesehen.“
„Ja. Ja, das habe ich“, bestätigte Djego und blickte Gibbli dabei seltsam feindselig an.
„Wenigstens bist du ehrlich. Oder weißt, wann es besser ist, so zu tun als wärst du es.“
„Jack hat keine Ahnung, wo er ist und ich werde es ihm nicht sagen. Beweist das nicht, dass ich auf eurer Seite stehe?“
Ohne ihm zu antworten, zog Sky sein EAG hervor und schob den Informationsstecker hinein. Gibbli versuchte nicht zu zittern, als sie Djego plötzlich ganz nah hinter sich spürte. Er berührte sie wie zufällig am Arm. Der Kapitän spielte die Aufzeichnung ab. Als sie Abyss auf dem Bildschirm erblickte, der sich vor ihnen in der Luft aufbaute, vergaß sie Djego sofort. Er sah schrecklich zugerichtet aus! Quer über sein Gesicht zogen sich tiefe Kratzer, weiter über seinen Hals hinweg, über die Schultern und unter das ärmellose Hemd hinein, das er trug. Seine Augen wirkten eingefallen. Er saß seitlich zur Kamera auf einem altmodischen Ohrensessel vor einem prasselnden Feuer eines offenen Kamins. Gibbli kannte diesen Raum. Sie war dort gewesen, damals, in Bo’s Körper. Zunächst sprach er nicht und blickte auch nicht direkt in die Kamera. Dann drehte er den Kopf vom Feuer weg und sah in die Aufnahme. Es schien ihm schwerzufallen.
Seine Stimme klang angekratzt. „Schlechte Nachricht Kapitän. Deine Mission ist gescheitert. Diese dämliche Hackfresse ist auf dem Weg hierher verschwunden. Keine Ahnung, wohin. Hab versucht allein mit den Tiefseemenschen zu sprechen. Naja, du siehst es ja, ist etwas eskaliert. Erinnerst du dich an dein kleines, oceanisches Spielzeug? Tja, ich musste es einsetzen. Hat ihnen nicht gefallen.“ Er drehte seinen Kopf von der Kamera weg und lehnte sich nach hinten in den Sessel. Kurz schloss er die Augen und nahm einen tiefen Atemzug. Dann beugte er sich nach unten.
Gibbli sah von der Seite, wie er etwas auf seinen Bauch presste. War das frisches Blut, das durch sein Hemd sickerte?
Abyss‘ Gesicht verzerrte sich kurz und er unterdrückte ein Stöhnen. Er griff nach einer altmodischen Strickdecke, die neben ihm lag und zog sie um sich herum. Dann drehte Abyss seinen Kopf wieder der Kamera zu und sprach schwer atmend weiter. „Ich musste fliehen. Das ist alles die Schuld von diesem scheiß Goldklumpen! Er hätte dabei sein sollen. Ich bin hier in Sicherheit. Vorerst. Aber ich … also …“ Abyss lehnte sich zurück und blickte nicht mehr in die Kamera, als er anfing zu flüstern. So, als würde er das, was er aussprach nur ungern zugeben wollen. „Also ich schaff’s momentan nicht, das Boot allein bis zur Akademie zu steuern.“ Er hob einen Arm und hielt seine blutende Hand mit den fehlenden Fingern vor den Bildschirm, ohne sich ihnen zuzuwenden. Gibbli verzog das Gesicht bei diesem Anblick. „Ich hatte Glück, den MARM überhaupt bis hierher zu bringen. Das dumme Teil fährt einfach nicht dorthin, wo ich es will! Die Steuerung ist Schrott!“
„Natürlich, die Steuerung“, sagte Sky leise.
„Also, ich komm dann in ein paar Tagen. Wenn das hier aufhört zu bluten. Schick Bo vorbei, wenn du sie siehst. Ach und Sky …“ Er drehte den Kopf wieder und sein düsterer Ausdruck jagte einen Schauer durch Gibblis Körper. „Wenn dir dieser goldene Drecksack über den Weg läuft, sagt ihm, ich werd ihn einschmelzen!“
Abyss streckte seinen heilen Arm aus, in Richtung des Aufnahmegerätes und lehnte sich seitlich aus dem Sitz, so dass sein Gesicht jetzt ganz groß zu erkennen war. Gibbli hatte das Gefühl, dass seine grauen Augen sie durch das Gerät hinweg anstarrten.
Noch einmal öffnete er den Mund, zögerte kurz und sagte dann leise: „Du fehlst mir, Gibbli.“
Das Hologramm fiel in sich zusammen. Gibbli hob den Kopf. Djego blickte grimmig auf das EAG und verschränkte die Arme.
„Wir müssen ihn abholen“, verlangte sie sofort.
Doch Sky lehnte ab. „Das ist nicht notwendig. Er kann sich dort ausruhen. Und es ist nicht klug, schon wieder die Stadt zu verlassen.“
„Schon wieder?“, fragte Djego neugierig, doch Gibbli nahm ihn kaum noch wahr.
Sky ging nicht auf seine Frage ein. „Ich sollte Abyss antworten, bevor er noch auf dumme Ideen kommt. Gehen wir zurück auf die Mara. Das Training muss warten.“
Er ist in Sicherheit, wiederholte Gibbli in Gedanken.
„Ich kann das übernehmen. Ich hab etwas Zeit“, warf Djego ein.
Sky musterte ihn eine Weile. Dann nickte er und wandte sich ihr zu. „Gibbli? Ist das für dich okay?“
Sie nickte abwesend, noch immer versucht, das Blut auf Abyss‘ blasser Haut aus ihrem Kopf zu bekommen.
„Wenn ihr etwas passiert, werde ich dich dafür verantwortlich machen. Ich werde dich jagen. Bestätige das.“
„Ich hab verstanden, Kapitän. Ich passe auf. Wir verlassen die Plattform nicht, bis du zurück bist.“
Überrascht riss Gibbli die Augen auf, als der Kapitän großen Schrittes ohne sie davon eilte. Verdammt, das hatte sie jetzt irgendwie verpasst!

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