shadow

Kapitel 5: Schlechte Nachrichten (Bis in die tiefsten Abgründe)

Ein paar Stunden später schreckte Gibbli hoch. Stevens Stimme erklang schrill in ihren Ohren: „Hey! Kapitän! Dein Partygast ist daha!“
„Setzen wir ihm eine Narrenkappe auf und schubsen ihn dann hinter dem Gebäude runter“, murmelte Abyss, während er sich mürrisch aufsetzte. „Platsch. Ein goldener Fleck auf goldenem Boden. Niemand würde ihn finden.“
Er schüttelte seinen Kopf, um wach zu werden, was seine Haare zerzauster wirken ließ als zuvor sowieso schon. Irrte sich Gibbli oder sah er sie seltsam an? Wo war sein sonst so glühender Blick abgeblieben? Sie drehte sich beunruhigt um. Sky stand schon. Achtung gebietend zog er seine Uniformjacke zurecht und band die Dreadlocks ordentlich nach hinten.
„Bleibt hier. Es reicht schon, wenn ich den Oceaner in Schach halten muss.“ Der Kapitän holte seinen Strahler aus der Umschnalltasche. Dann verließ er erhobenen Hauptes den Raum.
Während Abyss sitzen blieb und nach seinem Mantel griff, auf dem Sky geschlafen hatte, trat Gibbli leise zum Eingang. Sie versuchte zu erkennen, was draußen auf dem Zentrumsplatz vor sich ging. Hinten, beim anderen Gebäude, befand sich noch immer der Riss. War er größer geworden? Nein, sicher täuschte sie sich. Gegenüber, bei der Rampe erblickte sie Steven und Nox. Und noch jemand stand dabei, mit dem Rücken zu ihr. Dieser Jemand sah recht locker aus, wie er gemütlich ein paar verschlissene Decken auf den Armen balancierte, sowie zwei große Säcke, als wäre alles, was er anfasste, ein Kinderspiel. Er ließ sie achtlos fallen. Mit dumpfen Schlägen landeten die Säcke auf den am Boden verteilten Splitterstücken. Jetzt drehte er sich etwas und Gibbli konnte sein Gesicht erkennen. Verstohlen beobachtete sie den Neuankömmling. Der junge Mann trug kurze Locken in der Farbe von rostigem Eisen und einen kleinen Bart am Kinn sowie über dem Mund. Seine Form zeugte davon, dass er gerne und viel aß. Doch er wirkte nicht dick, eher etwas stämmig.
Nox zog einen Fisch aus einem der Säcke. „Was soll das?“, krächzte der Tiefseemensch empört. „Völlig ungenießbar! Die sind tot, alle!“
„Das sind sie. Tot. Landmenschen essen keine lebenden Wesen.“ Die Stimme des jungen Mannes klang leicht.
Er hob abwehrend den Arm, der in einem weißen Leinenhemd steckte, als Nox die orangefarbenen Augen zu Schlitzen verzog. Die Haut des Fremden erschien dunkler, als sie eigentlich sein sollte, so als hätte sie sich verfärbt. Diese verschobene Farbfrequenz kannte Gibbli nur von Menschen, die behaupteten, sich oft an der Oberfläche aufzuhalten. Über dem Wasser! Wie es dort wohl aussah? Dieses leicht braun gebrannte Gesicht brachte sie zum Träumen. Sie stellte sich die unendliche Menge an Luft vor, die es an Land geben musste und Licht. Nicht wie auf der Nachtseite von Oca. In Gedanken hatte sie den Planeten der Mog so getauft. Immerhin gehörte er einst auch den Oceanern und Steven bezeichnete so ihre Vorfahren. Nox hob den Kopf, als er Sky bemerkte. Dieser schritt mit erhobener Waffe vom Haus aus an Steven vorbei auf sie zu. Der Tiefseemensch warf den Fisch zurück in den Sack und trat ein paar Schritte zurück, um nicht in der Schussbahn zu stehen. Der fremde Mann blickte hoch. Er hatte ebenfalls den Klang wahrgenommen, den die Kampfstiefel verursachten, als sie auf den goldenen Metalluntergrund trafen. Stiefel, die auch er selbst trug. Entschlossen streckte er seine Brust heraus und ging direkt auf Sky zu. Der Gang des Neuankömmlings war stramm und bedacht, als wäre er stolz auf jeden einzelnen Schritt, den er tat. Stevens sehnige Beine wirkten neben ihm fast dünn. Dennoch erschien der junge Mann keineswegs unsportlich.
„Cervantes Djego“, sagte Sky langsam.
„Kapitän! Ich freue mich. Endlich!“ Er warf einen kurzen Blick auf den Strahler und sprach dann lauter, als würde er seine Angst überspielen. „Ich überbringe eine Nachricht.“
„Ich nehme an von Jack.“
„Von Jack? Nein, nicht von ihm. Nun, das auch, aber da gibt es noch etwas anderes.“ Djegos Blick wanderte wieder auf die Mündung von Skys Waffe. Dieser zielte noch immer direkt auf seine Stirn. „Bitte, ihr habt von mir nichts zu befürchten.“
Sky ignorierte seine Worte und verharrte bewegungslos. „Sprich!“, verlangte er.
„Ich bin auf deiner Seite!“, rief Djego. „Ihr habt meine Unterstützung, Kapitän. Und ich bin nicht alleine. Es gibt viele aus der Flotte, die Jacks Ansichten nicht teilen. Wir wollen nicht, dass Jack die Stadt zerstört.“
„Gib mir einen Grund, deinen Worten zu trauen.“
Djego dachte kurz nach. „Du solltest meinen Worten trauen, weil wir unter dir standen und noch immer stehen. Jack mag der erste Mann der Flotte sein, aber du warst … bist unser Kapitän.“
„Ich erinnere mich an dich. Du warst der Neue. Ich wählte dich aus, weil du nützlich erschienst. Du hattest erst drei Monate in meiner Crew verbracht, als ich gefeuert wurde.“
„Ja, drei Monate. Und ich kann euch wieder von Nutzen sein, Kapitän. Ihr wollt etwas wissen? Ich sage es euch. Ich finde alles heraus. Und das Beste, Jack vertraut mir.“
„Erzähle mir mehr.“
„Natürlich, Kapitän. Ich erzähle dir gerne mehr. Fast deine komplette, ehemalige Crew steht geschlossen hinter dir.“ Djego hielt kurz inne. „Nun, nicht die 200 Boote, die du damals befehligt hast. Aber alle Frauen und Männer des Führungsbootes, die noch übrig sind.“
„Wenn das so ist, möchte ich mit dem neuen Führer das weitere Vorgehen besprechen. Nenne mir den Namen“, verlangte Sky.
„Gut, den nenne ich dir. Es ist Dana Dixland. Ich werde ihr über unser Treffen berichten und sie mitbringen. Und vielleicht“, fügte er bittend hinzu, „könnten wir dann ohne Waffen miteinander sprechen.“
„Dana Dixland. Ich hätte erwartet, es wird James Light. Dixland ist zu jung, zu unerfahren.“
„Ja, in der Tat.“ Djego hielt inne und dachte nach. „Doch Light hat gekündigt, nachdem du gegangen warst. Kapitän, ich sollte jetzt nicht so lange hierbleiben. Jack erwartet mich. Er wird sonst misstrauisch. Ich musste noch heimlich für euch diese ganzen Dinge besorgen“, er nickte zu den Decken und den Säcken hinüber. „Darf ich gehen?“
Sky überlegte kurz. Gibbli war nicht entgangen, dass er seine Waffe für keinen Moment gesenkt hatte. Offenbar war er sich nicht sicher, ob man dem jungen Mann trauen konnte. Sie beobachtete Djego. Er schien Respekt vor dem Strahler zu haben und blickte diesen immer wieder verunsichert an. Es kam ihr auch ein wenig seltsam vor, wie er sprach, immer wieder innehielt und Dinge wiederholte, die Sky bereits gesagt hatte, als würde er manchmal Zeit schinden wollen. Djegos Blick wanderte jetzt an dem Kapitän vorbei zum Eingang des Raumes, an dem Gibbli stand und er streifte den ihren. Für einen Moment, der sich plötzlich in ein Stück Ewigkeit verwandelte. Warum sah er sie nur so lange an? Ein Kribbeln breitete sich in ihrem Bauch aus. Ungewöhnlicherweise schaffte es Gibbli, seinem Blick standzuhalten. Sie zuckte zusammen, als sie plötzlich Abyss‘ kraftvolle Hand auf ihren Schultern spürte. Er schien sie ein Stück zurückziehen zu wollen, in das Gebäude hinein. Doch Gibbli blieb stehen. Die strahlenden Augen von Djego schienen sie anzuziehen. Waren sie grün oder türkis? Aus der Entfernung konnte sie es nicht genau erkennen.
„Sage mir erst, warum Jack dich schickte“, verlangte Sky in seiner befehlenden Art.
Für einige Sekunden dachte Gibbli, er würde nicht antworten. Doch dann wandte Djego den Blick von ihr ab und schenkte Sky seine volle Aufmerksamkeit. Langsam und bedacht öffnete er den Mund. „Warum? Nun, Jack schickte mich, um euch etwas zu bringen. Ich habe es hier, in meiner Tasche. Ich hole es heraus. Ist das in Ordnung?“
Sky stimmte zu. „Langsam.“
Djego zog ein zylinderförmiges Gerät aus seiner Uniform und warf es dem Kapitän zu. Dieser fing den Informationsstecker mit der freien Hand auf, ohne den Blick dabei von dem jungen Mann abzuwenden.
„Geh und berichte Dixland. Und sag Jack, ich werde das hier lesen“, befahl der Kapitän.
„Das mache ich.“ Wieder sah Djego an Sky vorbei Gibbli direkt an. Er verzog seinen Mund zu einem breiten Lächeln.
Es fühlte sich an, als würde Gibbli plötzlich ein Stück emporschweben. Ungewollt zogen sich ihre Mundwinkel für einen kurzen Augenblick ebenfalls nach oben. Dann wandte sich Djego ohne einen weiteren Blick auf Sky von ihnen ab und ging sicheren Schrittes auf die Rampe zu, die nach unten führte. Nox drehte an einem runden Steuerrad und verriegelte den Durchgang hinter Djego. Das Geräusch des Einrastens der Luke gab ihr das Gefühl aufzuwachen. Ein wenig durcheinander sah sich Gibbli nach Abyss um. Sie hatte nicht bemerkt, als seine Hand von ihrer Schulter verschwunden war. Er rauschte eilig an ihr vorbei und stieg über Cora hinweg nach draußen. Gibbli hob ihre Werkzeugtaschen auf und band sie an ihren Oberschenkeln fest. Dieser dämliche Oceaner war nachts irgendwann vorbeigekommen und hatte sich einige ihrer Geräte ausgeliehen. Jetzt lagen sie verstreut auf dem Boden.
Von draußen drang Abyss‘ Stimme in den Raum herein: „Das ist kacke. Ich mag ihn nicht.“
Ich mag diesen Chaoten auch nicht, dachte Gibbli und begann, ihr Werkzeug einzusammeln. Steven hätte es wenigstens in ihre Taschen zurücklegen können!
„Wen?“, fragte Sky draußen.
„Dieses blöde Brot! Bin dafür, wir werfen ihn auch da hinter dem Haus runter.“
„Ich kann dir nicht folgen, Abyss.“
„Brot. Bred … Brett?“
„Du meinst Djego.“
„Wen den sonst? Allein schon sein Name! Abszes Pedo. Wer denkt sich denn so was aus?“
„Sein Name lautet Cervantes Djego und er steht offensichtlich auf unserer Seite“, wies ihn der Kapitän zurecht.
„Natürlich, darum hattest du auch durchgehend deinen Strahler auf ihn gerichtet. Wie alt ist er, 17?“
„Zur Sicherheit. Ich will abwarten, was Dixland dazu sagt. Und er ist 19.“
„Aha! Also minderjährig!“
„Seit wann interessiert dich das?“, fragte Sky scharf.
„Seit wann interessiert dich das nicht mehr?“
„Er hat die Akademie abgeschlossen. Und er war einer der besten, sonst hätte ich ihn nicht auf meinem Führungsboot eingestellt.“
„Hm. Und was kann der Hohlkopf so?“
Gibbli steckte ihren Schraubenschlüssel in die Tasche und horchte auf. Das würde sie auch interessieren. Für welchen Bereich war dieser Djego zuständig?
„Er findet alles heraus. Djego besitzt Talent im Beschaffen von Informationen jeglicher Art. Dinge, die anderen verborgen bleiben oder die sie verschweigen. Stelle ihm eine Frage, egal was und ein paar Stunden später liefert er dir die Antwort.“
Das hörte sich nach etwas an, was Abyss zu schätzen wissen sollte, dachte Gibbli.
„Du hast bereits jemanden, der das macht“, knurrte Abyss ablehnend. „Mich! Und ich liefere die Antwort, bevor du eine Frage stellst.“
Oh ja, Abyss war Meister darin, Dinge herauszufinden, die andere ihn nicht wissen lassen wollten. Allerdings war er auch gut darin, Offensichtliches zu ignorieren oder Sachen, die ihm nicht gefielen, skrupellos zu beseitigen.
„Das ist nicht deine Aufgabe, Abyss“, gab Sky zurück. „Zusätzliche Informationen sind hilfreich. Die kurze Zeit, die ich ihn kannte, war mir Djego immer ein guter Spion.“
Gibbli schloss ihre Werkzeugtaschen und blickte nach draußen. Die beiden Männer standen einige Meter weiter, nahe der Kisten, vor ein paar Maschinen.
Abyss schien unbeeindruckt von Skys Worten. „Pfff. Dieser hirnlose Arsch fällt um, wenn ich nur einmal ausatme.“
Der Kapitän trat näher auf ihn zu. „Sprich es aus! Wenn du mir etwas sagen willst, dann komm zum Punkt!“
„Er hat sie komisch angesehen“, knurrte Abyss.
„Genauer. Ich schwöre dir, wenn du jetzt auch damit anfängst, dass ich dir jedes Wort aus der Nase ziehen muss, dann-“
„Gibbli! Ich mag nicht, wie er sie ansieht!“
Schnell zog sie sich in den Schatten des Raumes zurück.
„Du kannst nicht jedem, der sie ansieht, die Augen herausreißen“, hörte sie Sky sagen.
„Warum nicht?“
Gibbli lächelte. Manchmal konnte Abyss wirklich übertreiben. Offensichtlich hielt der Kapitän es nicht für nötig zu antworten. Nach ein paar Sekunden schaute sie vorsichtig an Cora vorbei nach draußen.
„Sky! Das kannst du nicht so stehen lassen! Merkst du es nicht? Nein, ich weiß du merkst es, warum ignorierst du es? Er lügt, sobald er den Mund aufmacht!“
„Und du nicht?“, fragte Sky sarkastisch.
„Schon gut, ich weiß, dass du weißt, dass ich vielleicht nicht immer, also ganz selten, nicht die Wahrheit sage, aber du weißt, dass ich weiß, dass du weißt, ich mein‘s immer gut. Also meistens. Okay, fast nie. Aber diese Fratze von-“
„Lass diesen Unsinn!“, unterbrach ihn der Kapitän.
„Hey, ich bin auf deiner Seite! Wir dürfen ihm nicht trauen! Er verschafft sich Zeit, indem er das Gesagte wiederholt, er denkt zu langsam für einen Lügner. Das muss dir doch auffallen!“
„Es ist mir aufgefallen. Lass den Jungen in Ruhe, Abyss.“
„Ja, ich bringe ihn zur Ruhe“, knurrte Abyss. „Zur ewigen.“
Skys Blick verdüsterte sich. „Abyss, sei gewarnt, denke nicht einmal daran!“
„Meine Gedanken hast du nicht zu bestimmen. Und du willst, dass ich ihn töte, nicht wahr? Du magst mich.“
„Das habe ich nicht behauptet.“ Gibbli bemerkte den drohenden Unterton, den Skys Stimme plötzlich angenommen hatte. Doch dann entspannte er sich wieder. „Hör auf, wie Steven zu reden!“
Abyss grinste ihn provozierend an und ahmte die Stimme des Oceaners nach: „Du liebst mich.“
„Idiot“, murmelte Sky und schüttelte den Kopf.
Abyss hob triumphierend einen Finger und seine grauen Augen blitzten mörderisch auf. „Hah! Du fluchst. Das bedeutet, du willst, dass ich ihn töte!“
„Lerne, dich besser zu kontrollieren!“, sagte Sky ruhig.
„Und wie? Sag es mir! Ich kann nicht mehr spielen. Die Geige, ich kann’s nicht mehr! Ich kann diesen verdammten Bogen nicht mehr richtig halten!“, fuhr Abyss ihn an. Dann wurde seine Stimme ruhiger. „Und sag mir nicht, dass du nichts dafür kannst. Denn das IST deine Schuld.“
Ob Sky etwas darauf erwiderte, bekam Gibbli nicht mit. Sie wollte gerade den Raum verlassen, als Steven vor ihr auftauchte und sie zurückhielt.
„Ein spannender Junge, nicht wahr, mein Schatz?“
Gibbli zuckte mit den Schultern. Erst jetzt fiel ihr auf, dass das der Oceaner vorhin gar nichts zu diesem Djego Cervantes gesagt hatte und sich auffallend ruhig verhalten hatte.
„Oh, ich erahne schon das wundervolle Chaos, das wird ein Spaß! Aber zuerst gibt es Wichtigeres. Wie sieht es aus, Mädchen, bereit für deine Aufgabe?“, fragte er.
Gibbli antwortete ihm nicht und blickte an dem Oceaner vorbei zu Sky, der noch immer draußen stand. Er steckte Jacks Informationsstecker in sein EAG.
„Ich mag ihn nicht“, sagte Abyss noch einmal und setzte sich mit verschränkten Armen auf eine der Maschinen neben ihm.
Beide betrachteten mit düsterer Miene das Hologramm. Es baute sich mitten in der Luft über dem EAG auf. Doch von der Seite war es flach und man konnte den Inhalt nicht ausmachen.
„Unser kleines Spiel, schon vergessen?“, erinnerte Steven sie wieder daran, dass er vor ihr stand.
„Ich hab keine Lust auf das dumme Spiel!“, murmelte Gibbli genervt. Sie wollte hinausgehen und wissen, was in dem Hologramm stand.
„Das tut nichts zur Sache. Du kannst nicht einfach aussteigen. Wenn du meine Aufgabe nicht annimmst, muss ich dich bestrafen, so sind die Regeln. Es ist verdammt langweilig hier und Sky lässt mich nicht gehen. Also komm schon, wir hauen ab.“
„Abhauen? Wohin? Warum willst du überhaupt weg?“, fragte Gibbli abwesend.
„Das, mein Schatz, kann ich dir leider nicht verraten. Du würdest mich hassen und ich will nicht, dass du mich hasst.“
„Ich hasse dich längst.“ Ein paar Meter hinter dem Oceaner zog Sky den Stecker heraus und das Hologramm brach in sich zusammen.
„Ich sollte es ihr jetzt zeigen“, hörte sie den Kapitän sagen.
„Nein. Ich mach das. Später“, meinte Abyss.
Steven lenkte sie wieder ab: „Niemand hasst mich! Du bist unhöflich! Sein Einfluss tut dir wirklich nicht gut!“
„Meinetwegen, stell mir diese blöde Aufgabe, aber nicht jetzt! Ich bin gerade aufgestanden und ich …“ Gibbli überlegte, wie sie das Spiel hinauszögern konnte. „… will mich jetzt waschen.“
Steven schnaubte. „Nein, du wirst-“
„Steven!“, rief Sky plötzlich hinter ihm.
Der Oceaner fuhr herum. „Was?“
„Ich habe dir gestern ein paar Fragen gestellt und erwarte noch immer Antworten. Erzähl mir mehr über die Energieversorgung.“ Gibbli erinnerte sich daran, dass der Kapitän ihn um Informationen über Ocea gebeten oder eher verlangt hatte.
„Alle wollen sie etwas von mir, hach ist das toll. Aber das ist sinnlos, Kapitän. Wir sollten lieber feiern und herum springen, solange wir noch die Beine dazu besitzen.“
Er war wirklich verrückt, dachte Gibbli.
„Nein. Du tust, was ich dir befehle. Jetzt“, sagte Sky auffordernd.
„Na gut, mein Kapitän, ich werde mein überlegenes Wissen mit euch teilen. Ich weiß ja so viel. Also, es gibt einen zentralen Maschinenraum“, begann der Oceaner langsam zu erklären. Überheblich blickte er die beiden an. „Er befindet sich im Zentrum von Stockwerk acht bis zwölf. Dort liegt die Steuerung, der Kern, der Haupt-DNA-Speicher, der Beginn aller Versorgungsleitungen.“
„Also hat Jack möglicherweise von dort aus alles still gelegt“, schloss Sky.
Steven schüttelte den Kopf. „Nein. Nein, nein, nein. Es gibt keine manuelle Steuerung, um hinein zu gelangen. Ein Zugriff zu diesem Bereich ist nicht einmal über Gedankenübertragung möglich. Es wird der direkte Kontakt ocanischer DNA benötigt, wie bei der zentralen Informationskugel auf der Mara. Außerdem ist der Maschinenraum mit einem Kraftfeld gesichert, das jeden Nicht-Oca, sollte er sich darin aufhalten, tötet. Eine nette Absicherung, findet ihr nicht? Regt zum Stehlen an, oh ja.“
Sky verschränkte die Arme. „Das bedeutet, du könntest von dort aus die Geräte wieder zum Laufen bringen.“
Steven lachte hysterisch auf. „Nein“, sagte er dann ernst.
„Nein“, wiederholte Sky. „Und das bedeutet was?“
„Dass er keine Ahnung hat, wovon er spricht“, warf Gibbli ein.
„Ich will kein Fehlersucher sein, Mädchen! Und ich bin kein Bauer. Ich bringe keine Dinge zum Laufen, ich mache sie für gewöhnlich kaputt! Haha, ja, das ist viel lustiger! Und alles andere, was ich baue, ist viel bedeutender als lächerliche Alltagsmaschinen. Ich erkläre und erfinde die Theorie der physikalischen Möglichkeiten von technischen Kunstwerken.“
„Also ich kann es“, meinte Gibbli genervt. „Wenn du mir erklärst, wie alles genau funktioniert, wird das sicher nicht lange dauern.“
Sky nickte. „Gut. Wir steigen hinab und ihr geht dort-“
„Nein, nein, nein, nein! Dummköpfe!“, unterbrach Steven den Kapitän. „Ihr seid so unwissend! Wie ich bereits sagte, es ist sinnlos.“
„Dann erkläre mir Dummkopf, was genau daran sinnlos ist!“
Steven zuckte mit den Schultern. „Die Maschinen laufen. Es ist nichts kaputt. Es muss nichts repariert werden.“
„Hier funktioniert nichts. Hier muss alles repariert werden!“, widersprach Sky.
„Genau! Nichts funktioniert, nichts, nichts, nichts, Kapitän. Keine elektromagnetische Übertragung mehr, egal welcher Art. Ob durch die Luft oder durch direkte Berührung ist nicht von Bedeutung. Die Frequenzen hängen fest und lassen sich nicht ändern. Und das liegt sicher nicht an meiner perfekt gestalteten Oca-Technologie!“
Plötzlich wurde Gibbli klar, was Steven meinte. „Das schließt den Zugangsmechanismus zum zentralen Maschinenraum mit ein. Wir kommen nicht rein. Wahrscheinlich hat er recht, wir können nichts tun.“
Sky fuhr sich nachdenklich mit einer Hand durch die Haare. „Na schön. Du wirst vorerst hier oben bleiben, Gibbli. Ich will den Zugang trotzdem sehen, Steven. Und wenn wir schon dabei sind, ich brauche einen Überblick über die Stadt. Zeige mir, wo sich was befindet“, befahl er.
Steven warf einen kurzen Blick auf Gibbli, der ihr unmissverständlich sagte, dass sie mit dem Spiel noch nicht durch waren. Dann brach er missmutig mit Sky in die unteren Stockwerke auf. Sehnsüchtig blickte Gibbli ihnen nach und dachte an all die Maschinen. Wie gerne würde sie in diese Zentrale hinein gelangen. Aber wenn nichts funktionierte, war das tatsächlich sinnlos. Gibbli sah sich um. Abyss schien ebenfalls verschwunden zu sein.

 

Gibbli stand am zentralen Platz zwischen den drei Häusern. Sie blickte zur Tür des dritten Gebäudes, die offen stand. Samantha saß drinnen am Boden und sprach leise. Offensichtlich hoffte sie, ihre Schwester könnte sie trotzdem verstehen, obwohl Bo noch immer bewusstlos war. Ein Stück blaue Haut lugte unter einer der Decken hervor, die der junge Mann vorhin mitgebracht hatte. Wahrscheinlich hatten Samantha oder Nox sie damit zugedeckt. Jetzt saß der Tiefseemensch mit halb geschlossenen Augen vor der Luke, hinter der die Rampe weiter hinab in die unteren Stockwerke führte. Der Kapitän wollte dort immer jemanden haben, der den Zugang bewachte und nur Leute aus ihrer Crew einließ.
Gibbli nahm sich eine Frucht aus einem der beiden Säcke: Ein Apfel. Sie mochte seinen süßen Geschmack sehr gerne. In einer verrückten Unterrichtseinheit eines Geschichtskurses hatte ihnen die Lehrerin tatsächlich Bilder gezeigt, auf denen Äpfel nicht die typisch hellblaue Farbe aufwiesen, welche die heutigen Züchtungen besaßen. Angeblich waren sie früher grün und gelb und manchmal sogar rot gewesen. Gibbli biss hinein. Sie dachte kurz daran, sich wirklich noch einmal zu waschen, verwarf den Gedanken jedoch sofort wieder. Stattdessen ging sie langsam an dem Riss im Raum vorbei, in Richtung Rampe, die nach oben führte. Das Waschen am gestrigen Abend war schmerzhaft genug gewesen. Der Wasseraufbereiter, den dieser Djego laut Samanthas Worten vor zwei Tagen unter ihnen abgestellt hatte, reichte gerade aus, um sie mit Trinkwasser zu versorgen. Samantha hatte Gibbli erzählt, dass Bo gerade ihre Kleidung waschen wollte, als alles stecken blieb. Seitdem rann das Wasser im hinteren Raum des Gebäudes, in dem die Hybridenfrau jetzt lag. Und es ließ sich nicht mehr ausstellen. Unaufhörlich lief die Pumpe, die immer neuen Nachschub aus dem Meer irgendwo weit über ihnen bezog. Salzwasser, das höllisch gebrannt hatte auf Gibblis Rücken. Sie hatte fest die Zähne aufeinandergepresst, um nicht aufzuschreien, als es über die Wunde des eingebrannten Namens gelaufen war. Dabei sollten sie glücklich darüber sein, dass Bo gerade in diesem Moment das Wasser aufgedreht hatte. Denn wenn sie es nicht getan hätte, ständen sie jetzt völlig ohne Wasser da.
Während sie den Apfel aß, ließ Gibbli den Riss hinter sich und stieg die Rampe empor, über die Gebäude der letzten Etage. Auf der Plattform blieb sie wieder kurz stehen. Sie dachte, ein Geräusch gehört zu haben. Doch alles um sie herum wirkte wie ausgestorben. Weiter hinten stand eine Kiste am Rand der Vorrichtung des ausgeschalteten Portals. Gibbli erkannte sie sofort. Es handelte sich um das Ding, das der Kapitän immer mit sich herum geschleppt hatte. Letitias Sarg. Jemand hatte die Leiche des kleinen Mädchens wieder hinein gelegt und ihn verschlossen. Gibbli fragte sich, was Sky mit ihr anstellen würde. Die Colbspalte kam dafür sicher nicht mehr in Frage. Nicht, solange Jack mit seinen Soldaten ihnen am Fuß der Stadt auflauerte.
Sie ging zu den Säulen und schlenderte nach oben, am Geländer der Galerie entlang. Von hier aus konnte man weit über all die glänzenden Dächer der verschiedenen Stockwerke unter ihnen blicken. Alles wirkte ruhig und friedlich. Ihr fiel auf, dass einige Gänge von der kegelförmig angelegten Stadt aus mitten in die felsigen Wände hinein führten. Ob Sky ihr böse wäre, wenn sie einmal dort hinunter stieg und die verschiedenen Gebäude erkunden würde? Die Soldaten trauten sich schließlich laut Nox nur noch selten über die dritte Etage hinaus.
Plötzlich nahm Gibbli wieder eine Bewegung wahr. Stand da nicht jemand? Ja, dort drüben, auf der anderen Seite der Galerie, eine Gestalt! Ihr Herz fing an zu rasen, als sie glaubte, rostfarbene Locken zu erkennen. War das dieser Junge Mann von vorhin? Völlig erstarrt beobachtete sie, wie er bedacht am Geländer entlang schritt und auf sie zukam. Die Hände hatte er beide erhoben, als wollte er ihr zeigen, dass er keine Gefahr darstellte. Freundlich strahlte er sie an. Beeindruckend, dachte Gibbli, wie kann jemand nur so türkisfarbene Augen besitzen? Ihr Atem beschleunigte sich und nervös dachte sie daran, dass sie vielleicht nicht bewegungslos dastehen sollte. Bestimmt sah sie gerade ziemlich blöd aus. Ein paar Meter vor ihr blieb er stehen. Wie war er überhaupt hier hochgekommen, vorbei an Nox? Sky hatte gesagt, er war gut im Entdecken verborgener Dinge. Offensichtlich gehörten geheime Wege auch dazu. Verdammt, schoss es Gibbli durch den Kopf, dieser Junge durfte gar nicht hier sein! Und sie stand nur da und lieferte sich ihm schutzlos aus! Sie versuchte nicht einmal, ihr Messer aus dem Stiefel zu ziehen. Wie konnte man auch nur daran denken, so ein Gesicht wie das seine verletzen zu wollen? Nein, das ging nicht.
„Was … was … t-tust du hier?“, flüsterte Gibbli stotternd. Was für eine dämliche Frage, das hörte sich ja total fies an! Was würde er jetzt nur von ihr denken? Sie hatte ihm noch nicht mal ihren Namen genannt. Sie hätte sich ihm vorstellen sollen. Sicher konnte er sie nicht ausstehen!
„Beobachten“, flüsterte er zurück und legte einen Finger an seine Lippen. Es hörte sich mehr wie ein sanfter Hauch an als ein Flüstern.
„Mich?“
Cervantes Djego schüttelte leicht den Kopf und seine Locken fielen ihm vor die Stirn. Er verzog den Mund kurz zu einem gequälten Lächeln. Irgendwie wirkte es bitter. Dann zeigte er hinab, auf die Plattform. Gibblis Blick folgte seiner Geste. Doch der junge Mann stand auf der anderen Seite der Galerie am Geländer. Von hier aus konnte sie nicht sehen, auf was er deutete. Er ging ein paar Meter zurück und ließ Gibbli dabei nicht aus den Augen. Unsicher blickte sie ihn an. Dann trat Gibbli an das Geländer, an ihm vorbei, um auf die Seite hinab zu sehen, die sich hinter der Vorrichtung des Portals befand.
Sofort erkannte sie die blasse Gestalt, die dort unten stand: Abyss. Neben ihm lag seine Geige am Boden und der Dolch, Nu. Seinen alten Bogen hielt er fest umklammert. Plötzlich lockerten sich seine Finger und er ließ ihn fallen. Kein gutes Gefühl bei dem Gedanken, diesen Djego länger als ein paar Sekunden unbeobachtet in ihrer Nähe zu wissen, blickte Gibbli wieder auf. Doch der junge Mann war verschwunden! Sie legte ihre Hände um die goldene Stange der Begrenzung und suchte verwirrt die Galerie ab. Sie konnte ihn nirgendwo entdecken.
„Scheißdreck!“, drang Abyss‘ Stimme zu ihr hoch, gefolgt von einem dumpfen Schlag. Hastig fuhr sie herum. Er hatte schreiend gegen seinen Geigenkoffer getreten, der jetzt quer über die Plattform flog. Krachend schlug das dunkle Holz ein paar Meter entfernt am Boden auf.
Gibbli durchfuhr ein Schaudern. Abyss hob den Kopf und sein bohrender Blick traf den ihren. Ihr Herz zog sich zusammen. Die Verzweiflung, die er ausstrahlte, fühlte sich an wie ein schwerer Stein, der sich in ihrem Hals manifestierte.
„Hey! Was treibst du da oben?“, fuhr er sie an. „Warst du schon wieder mit diesem goldenen Idioten unterwegs?“
Gibbli öffnete den Mund. „Ich …“ Sie brach ab. Sogar von hier oben konnte sie das Blut sehen, das von seiner Hand tropfte. Offensichtlich hatte er versucht zu spielen und dabei seine Wunde schon wieder aufgerissen.
„Verdammt, jetzt komm endlich runter oder sag was, bevor ich hochkomme und die Worte aus dir raus prügle!“
Erschrocken zog sie die Luft ein.
Abyss schloss die Augen und wandte sich von ihr ab. „Ach, vergiss es“, knurrte er und ging unter der Vorrichtung hindurch, sodass sie ihn nicht mehr sehen konnte.
Für einen Moment starrte Gibbli auf seine Geige. Dann drehte sie sich um und lief die Galerie entlang, vorbei an den Säulen hinab. Als sie vor der Vorrichtung des Portals stand, ballte sie die Hände zu Fäusten. Unsicher hielt sie nach ihm Ausschau. Langsam ging sie zur Rampe, die nach unten führte. Dort saß er, oben beim Abgang, mit dem Rücken zu ihr. Mit einer fließenden Bewegung wickelte er Verband um seine rot getränkte Hand. Gibbli schluckte nervös und trat auf ihn zu. Sie setzte sich daneben, ein Stück versetzt über ihm, wo sich der Weg begann nach unten zu neigen. Ohne aufzublicken, zog Abyss den Verband fest. Gibbli ließ ihren Blick über die Dächer der Stadt schweifen. Unter ihnen, am Ende der Rampe, lag die kleine Gasse, die zum zentralen Platz des obersten Stockwerkes führte, mit den drei Gebäuden.
„Hey, ich … ich würde dich nie schlagen, das weißt du doch, oder? Ich will nicht so zu dir sein. Ich sollte es nicht. Vor allem jetzt nicht.“ Abyss lehnte sich zurück und stützte sich mit den Unterarmen am Boden ab. „Aber ich bin es.“
„Das ist mir egal“, sagte Gibbli. Ich mag dich trotzdem, dachte sie.
Er schloss für einen Moment die Augen. Er wirkte verletzt. Verwirrt blickte sie ihn von der Seite an. Hatte sie etwas Falsches gesagt?
„Ich weiß“, murmelte Abyss. „Und es treibt mich in den Wahnsinn, dass es dir egal ist.“
„Ich meine damit, du musst nicht so tun, als wenn du nett wärst“, fügte sie hinzu und hatte sofort das Gefühl, es nur schlimmer zu machen.
Einige Minuten lang erwiderte er nichts und sie wünschte sich, er würde sie wenigstens ansehen. Er wirkte müde, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen.
„Geht es … dir gut?“, fragte sie nach einer Weile. Seine Finger machten ihr Sorgen.
„Nein. Mir geht’s beschissen“, antwortete er langsam und Gibbli hatte das Gefühl, dass er von etwas ganz anderem redete als über seine Wunde. „Das würd mir alles wahrscheinlich nicht so viel ausmachen, wenn ich noch spielen könnte, aber sieh mich an, meine Hand ist verkrüppelt. Keine Sorge, ich … ich komm damit klar. Und ich werd die Kontrolle nicht verlieren. Aber das ist jetzt auch nicht wichtig. Es sollte nicht wichtig sein.“
Gibbli runzelte die Stirn. „Was ist denn jetzt wichtig?“
„Na schön, hör zu. Es ist sinnlos, das länger hinauszuzögern. Es ändert nichts an der Tatsache und macht sie weder besser noch schlechter. Sky wollte es dir sagen. Aber er hat ein Talent dafür, mit tausend Worten zu verschweigen, was man mit einem einzigen Satz sagen könnte.“ Abyss drehte seinen Kopf zu ihr hin. „Ich mach’s kurz.“
Mit einem unbehaglichen Gefühl, was jetzt kam, beobachtete sie ihn. Er griff in eine Tasche seines Mantels, der neben ihm auf der Rampe lag und holte einen kleinen Informationsstecker hervor.
„Er enthielt zwei Nachrichten.“ Abyss streckte seine Hand aus.
Unsicher nahm Gibbli den Stecker und wog ihn in ihren Händen. Dann zog sie ihr EAG aus der Tasche. Sie zögerte einen Moment und schob dann den Stecker in den Schlitz. Auf dem Datenträger lag jedoch nur eine Datei.
„Wo ist die zweite Nachricht?“, fragte sie sofort.
„Sky hat sie gelöscht“, antwortete Abyss.
„Warum?“
„Stell mir bitte keine Fragen dazu.“
„Hast du sie gelesen?“
„Ja“
„Von wem war sie?“
„Von Jack.“
„Und was stand drin?“
„Vergiss, dass sie existiert hat.“
„Warum sagst du mir dann überhaupt, dass es zwei Nachrichten waren?“
Er zuckte mit den Schultern. „Lies die andere.“
Gibbli wollte ihn mit ihrer Neugierde nicht weiter verärgern und wählte die verbleibende Datei aus. Das Hologramm baute sich vor ihr auf. Für einen Augenblick erschrak sie. Es handelte sich weniger um eine Nachricht, sondern einen Zeitungsartikel. Sogar mit Bild. Auf diesem starrte ihr das dunkelhäutige Gesicht ihres Vaters entgegen. Gibbli begann zu lesen.

 

„Mooks – Warnstufe zwei noch immer aktiv. Die von den drei Führern angesetzten DNA Tests im gesamten Landmenschengebiet unter dem Meer sind abgeschlossen. Von der Hauptstadt aus werden erste Entwarnungen an die verschiedenen Städte geschickt. Wie uns der schulische Leiter der Meeresakademie, Markus Brummer, mitteilte, gab es lediglich eine Verhaftung. Der berühmte Grambold de Orange wies einen positiven Test auf oceanische DNA auf. Seine Frau wurde bei der Verhaftung getötet, als er sich mit Gewalt widersetzte. Das Urteil über de Orange wurde bereits vollstreckt. Unsere Quellen berichten, dass der oberste Flottenführer Jack Kranch die Hinrichtung persönlich beaufsichtigte. Wir freuen uns, euch mitteilen zu können, dass von de Orange keinerlei Gefahr mehr droht. Die Lage bleibt jedoch angespannt. Nach seiner Tochter Gibbli de Orange wird weiterhin gefahndet. Jegliche Hinweise auf ihren Verbleib sind sofort an die elitären Einheiten zu melden. Achtung, niemand sollte selbst versuchen, sie festzuhalten! Aufgrund ihrer Abstammung können wir davon ausgehen, dass sie gefährlich ist. Das Mädchen wurde zuletzt mit einer Gruppe Verbrecher gesehen, die von dem korrupten Kapitän Skarabäus Sky geführt wird. Mehr über Skys grausame Taten und seinem Verrat an unserem Volk, gibt es in der nächsten Ausgabe zu lesen. Die leitenden Ermittlungen führt James Light, ehemaliges Mitglied der obersten Flotteneinheit.
Alissa Kleinfeld, Chefredakteurin, 2. Bezirk, Mooks“

 

Ihr Kopf fühlte sich wie leer gefegt an und füllte sich von Sekunde zu Sekunde mit neuen Gedanken. Gibbli schaltete das EAG ab und steckte es in ihre Tasche. Sie wollte das dunkle Gesicht ihres Vaters nicht länger sehen. Was sollte sie jetzt tun? Was tat man normalerweise, wenn man so etwas las? Sollte sie weinen? Es kamen keine Tränen. Ihr fiel auf, dass Abyss sie prüfend musterte. Sollte sie lachen? Abyss mochte ihr Lachen. Vielleicht würde es ihm besser gehen, wenn sie lachte. Was Cervantes Djego wohl von ihrem Lachen hielt? Schnell drückte sie die Gedanken an den Soldaten beiseite. Was hatte der jetzt in ihrem Kopf zu suchen?
„Hast du verstanden, was da drin steht?“, fragte Abyss.
Gibbli nickte.
„Deine Eltern sind tot.“
Sie erwiderte nichts darauf.
„Du wirst ebenfalls hingerichtet werden, wenn sie dich erwischen.“
„Ich hab’s verstanden.“
„Gut.“ Er wandte seinen Blick von ihr ab. „Wollte nur sicher geh’n.“
Gibbli verfolgte eine Gruppe Soldaten, die wie Ameisen viele Etagen unter ihnen am Rand der kegelförmigen Stadt eine Gasse entlang schritten.
„Abyss“, sagte sie nach einer Weile.
„Hm?“
„Kann ich dich etwas fragen?“
„Alles.“
„Warum magst du mein Lachen?“
Er kniff die Stirn zusammen und zwischen seinen Augenbrauen entstanden kleine Falten. Abyss‘ schräg gehaltener Kopf zeigte ihr, dass das eine Frage war, die er nach dem Lesen dieses Artikels eher nicht erwartet hatte. Doch dann entspannte er sich und blickte sie offen an. Und Gibbli versank in seinen grauen Augen mit den kleinen Lachfalten links und rechts davon.
„Wenn du lächelst, fühlt sich das an wie frei sein. Du trägst keine Maske, wie all die anderen. Du tust es mit deinem ganzen Gesicht, nicht nur mit deinem Mund. Du lachst mit den Augen, mit deinen Wangen, mit deiner Nase, mit jedem kleinsten Stück Haut. Und dein Blick wird so tief, als würdest du in mich reinschaun. Als wäre ich … bedeutend. Wichtig. Kein Niemand. Kein Junge mehr, der alles verloren hat und eigentlich gar nicht hierher gehört ins Meer. Sondern der Mann, der ich sein sollte.“
Gibbli blickte ihn überrascht an und wandte sich dann nachdenklich ab. Was für eine seltsame Erklärung. Wie konnte dieser riesige Kerl jemals denken, kein Mann zu sein?
„Vermisst du deine Eltern?“, fragte sie leise.
„Nein“, antwortete er bestimmt.
Sie streckte den Arm aus und fing eines der schwebenden Sonnenstücke ein. Die kalt glühende Lichtkugel leuchtete in ihren Handflächen wie ein kleiner Stern. Ob sie jemals echte Sterne am Himmel sehen würde?
„Ich vermisse meine auch nicht“, sagte Gibbli und versuchte, den Artikel aus ihrem Kopf zu verdrängen. Doch die Worte hallten darin wieder, als hätte sie jemand laut ausgesprochen. „Dieser Light, hat Sky nicht seinen Namen erwähnt?“
„James Light war Skys erster Offizier auf seinem Führungs-U-Boot“, bestätigte Abyss. „Aber Sky meinte, er steht auf unserer Seite. Wenn Light wirklich die Ermittlungen führt, haben wir keine Probleme.“
Wenn der Kapitän ihm vertraute, schien das zu stimmen. Kurz kam ihr der Mönch in den Sinn. Ihn vermisste Abyss sicher. Oder? Gibbli wollte ihn nicht fragen. Wieder dachte sie an Sky. Er war jetzt der einzige, der über sie noch bestimmen durfte. Er trug die Verantwortung. Nicht wie ein Vater, nein. Würden sie sich in der Eliteflotte befinden, wäre er so etwas wie ihr Vorgesetzter. Und dennoch, hier war er mehr als das. Er war derjenige, der sie alle zusammen hielt, wie der Kapitän einer dreckigen Piratenbande. Abgesehen von dem einen Punkt, der sie von Piraten unterschied: Sky war ehrlich. Er hatte von Anfang an klargestellt, dass er nicht mit Kindern umgehen konnte, dass er sie nicht als Kind sah.
„Vielleicht fehlen sie mir doch ein wenig“, flüsterte Gibbli.
Ein paar Sekunden verstrichen.
„Wenn ich Geige spiele“, sagte Abyss nach einer Weile, „zerfließt jeder Schmerz zwischen den klaren und schrägen Tönen. Aber wenn du mich anlachst, dann vergesse ich alles. Selbst wenn es nur der Ansatz eines Lächelns ist.“
Sie hob den Kopf. In dem Moment kam ihr eine Idee, wie sie Abyss aufmuntern konnte. Was ihm fehlte, waren Finger. Abyss brauchte Finger. Das würde eine tolle Überraschung für ihn werden!
„Ja. Genau so, Gibbli.“ Mit entspannten Augenbrauen erwiderte er ihr Grinsen.

Teile diesen Artikel:

Schreibe einen Kommentar

Ich schalte Kommentare manuell frei, sie sind daher ggf. erst nach einigen Tagen sichtbar. Möchtest du, dass dein Kommentar nur von Socke gelesen wird und nicht öffentlich sichtbar sein soll, bitte am Anfang des Kommentars das Wort PRIVAT in Großbuchstaben schreiben. Die Angabe von Name, Email und Website sind optional. Mit dem Absenden eines Kommentars, stimmst du der Datenschutzserklärung zu.