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Kapitel 8: Grüner Tod (Bis in die tiefsten Abgründe)

„Sie hat diese flitschigen Flutschis tatsächlich mit der Hand gefangen“, meinte Steven eine Stunde später noch immer ungläubig. Dabei hatte er Samantha selbst zugesehen, wie sie in den tobenden Wellen stand.
Offensichtlich hatte Nox ihr das beigebracht. Man brauchte eben nicht für alles Maschinen, dachte Gibbli. Samantha hatte die Fische an Stöcken befestigt und jetzt brutzelten sie langsam über dem Lagerfeuer. Die silbernen Schuppen schimmerten in den Flammen wie die Hose des Oceaners. Abyss hatte etwas Holz zusammen getragen. Leider war fast alles feucht. Doch nach einer Weile war es Gibbli gelungen, die Stücke mit ihrem Schweißbrenner anzuzünden. Es knackste laut und immer wieder wirbelten Funken durch die Luft. Die vier saßen direkt am Strand. Hier war der Boden nicht so schlammig wie zwischen den abgestorbenen Pflanzen. Wenn auch nicht richtig trocken, bildete der Sand einen weichen Untergrund. Man sank nicht so ein, wie im angrenzenden Moor, in dem sie mit den Fluchtkapseln Oceas gelandet waren. Der Himmel verdunkelte sich und es wurde langsam Nacht. So viel Luft, dachte Gibbli immer wieder. So viel Platz. Sie konnten nicht für immer an Land bleiben, schon wegen der giftigen Schwefelpartikel, doch für eine Weile wäre es schön, hier zu leben, mit Abyss und den anderen. Abyss. Gibbli wagte es nicht, ihn auf seine Worte anzusprechen, nicht vor den anderen beiden. Glaubte er wirklich, dass sie so schlecht über ihn dachte? Was dachte er eigentlich und um welchen Abgrund ging es? Was sollte sie ihm vergeben? Er war es doch, der sie aus ihrer Hölle an der Akademie befreit hatte!
„Als ich das letzte Mal hier war, haben wir ein Boot gebaut mit weißen Tüchern. Oh, ihr hättet es sehen sollen! Jeff steuerte es am Luftübergang“, schwelgte Steven in Erinnerungen. „Das Wasser war türkisblau und der Himmel von wundervoller Frequenz, so klar und rein wie meine perfekte Stimme.“
„Deine Stimme klingt scheiße.“ Abyss stocherte müde mit einem Stück Ast im Sand herum.
„Die Sonne brannte auf uns herab und wärmte unsere Köpfe, wie dieses prasselnde Feuer!“
„Die Sonne brennt nicht“, berichtigte ihn Gibbli. „Sie ist ein Kernfusionsreaktor. Wasserstoff fusioniert mit Helium, dadurch wird elektromagnetische Energie frei, die sich umwandelt, in Licht und Hitze.“
„Das sind nur Worte, Mädchen. Ist doch egal welches Plasma sich in welches verwandelt. Ich war dabei, als ihr Menschen diese Reaktion als Energiequelle benutzt habt. Früher, vor vielen Jahren. Ihr hättet euch fast selbst damit vernichtet. Ja, das hättet ihr. Es ist einige Zeit vergangen, bis ihr die Kristallspeicher für euch entdeckt habt. Natürlich noch immer rückständig, an die DNA Quellen der Oca reichen sie nicht heran. Und über die Energie der Mog, aus den anderen Ebenen, brauchen wir gar nicht erst zu sprechen.“
Gibbli versuchte, Stevens Geplapper auszublenden. Sie beobachtete Abyss, der sich damit abmühte, seine zusammenklebenden Haare vom Schlamm zu befreien. Stark verfilzt hingen sie über seine Schultern und mittlerweile fast bis zur Taille hinab. Schließlich verlor er die Geduld, nahm eines seiner Messer und schnitt sie einfach ab. Grimmig betrachtete er die hellblonden Strähnen, dann warf er sie ins Feuer. Gibbli rutschte ein Stück zurück, als der verschmorte Gestank seiner Haare in ihre Nase stach.
„Wäh, das ist eklig!“, rief Samantha.
Abyss ignorierte sie und band seine restlichen Haare zusammen, während er mit ausdrucksloser Miene in die Flammen starrte.
Fröstelnd zog Gibbli ihre Knie zu sich heran. Die Nacht war nicht kalt. Der Oceaner war es schon. Sie wünschte sich weit weg von diesem wandelnden Eisklotz. Warum hatten sie Steven nicht einfach auf dem Planeten der Mog zurückgelassen? Ach ja, ihretwegen. Warum war sie nur so blöd gewesen, Abyss davon abzuhalten auf ihn loszugehen? Und warum war Abyss so abweisend zu ihr?
„Was ist los?“, flüsterte er leise. Offensichtlich hatte er sie beobachtet und dieses Mal klang er sogar ein wenig besorgt.
„Nichts“, murmelte Gibbli, wohl wissend, dass er das nicht mochte.
Sie wollte es ihm sagen, ihm alles erzählen. Aber sie hatte nicht das Gefühl, als würde er es hören wollen. Seit sie die Höhle verlassen hatten, hatten sie nicht mehr miteinander geredet. Abyss schien, als würde er gleich etwas erwidern, dann überlegte er es sich anders. Gibbli schloss die Augen. Das unaufhörliche Rauschen der Wellen drang in ihre Ohren. Allmählich wurde sie müde. Steven plapperte munter vor sich hin. Irgendwann nickte sie ein. Doch sie schien nicht lange geschlafen zu haben. Als sie erwachte, redete er noch immer.
„… ist einmalig! Alles passiert ein einziges Mal und ist nicht mehr änderbar.“
„Nicht änderbar“, wiederholte Abyss betrübt. „Scheißdreck!“, schrie er plötzlich und schlug mit einer Faust in den Boden.
Gibbli zuckte zusammen. Samantha hob erschrocken den Kopf. Währenddessen sprang Abyss auf und watete durch den nassen Sand in die Dunkelheit.
Beunruhigt beobachtete Gibbli den Oceaner, der mit irritiertem Gesicht da hockte. Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, dass ihm überhaupt jemand zugehört hatte. Die orangen Flammen warfen ein flackerndes Licht auf seine goldenen Wangen. Für einen Moment genoss Gibbli, dass er endlich schwieg. Sie hatte genug von seinen belehrenden Worten und seiner hochnäsigen Art auszudrücken, dass er mehr Ahnung von allem hatte oder zu haben glaubte, als jeder andere. Sie blickte über das Feuer hinweg in Samanthas sommersprossiges Gesicht. Ihre glatten Haare waren im Meer aufgegangen und sie begann gerade damit, diese wieder zu zwei Zöpfen zu flechten. Die mitgebrachte Decke rutschte ihr von den Schultern. Sie sah hübsch aus, nicht wie Gibbli. Dieser Djego war sicher auch umgeben von Frauen der Elite und würde jemanden wie Gibbli gar nicht erst wahrnehmen. Samantha allerdings hätte sicher gut in die Nachwuchsflotte der Akademie gepasst. Sie war schlank und konnte unglaublich schnell im Wasser schwimmen. Offenbar hatte Nox ihr das beigebracht. Gibbli erinnerte sich daran, dass sie das noch nicht gekonnt hatte, als sie für kurze Zeit in Samanthas Körper gesteckt hatte. Damals wäre sie fast im Meer ertrunken. Ob sie auch so werden konnte? So schlank und sportlich? Gibbli entschloss sich, lieber nichts von den Fischen zu essen.
Nach einer Weile kam Abyss zurück und ließ sich neben ihr in den Sand fallen.
„Was ist das?“, fragte Steven abschätzig.
„Lass mich in Ruhe“, knurrte Abyss.
Doch der Oceaner ließ nicht locker. „Was ist das, Mensch?“
Abyss schwieg und schraubte an dem kleinen Einmachglas in seinen Händen.
Gibbli glaubte die grüne Flüssigkeit darin zu erkennen. „Ist das nicht das Zeug, das ihr auf der Mara getrunken habt? Dieses Sekret von einem Pelikanaal?“, fragte sie leise.
Abyss nahm den Deckel ab und betrachtete die glänzende Oberfläche. „Ja“, sagte er langsam, ohne sie dabei anzusehen. „Sky hat es tatsächlich geschafft, mich zu beeindrucken. Ich hätte nicht erwartet, dass er es trinkt.“
Samantha hob neugierig den Kopf. Steven hielt sein Gesicht näher ans Feuer, um mehr zu erkennen. „Du lügst“, flüsterte er. „Sag mir, dass er lügt, Mädchen!“, fuhr er Gibbli plötzlich an.
Sie wich vor ihm zurück und schüttelte leicht den Kopf.
„Es war nur ein einziger Schluck. Aber Sky trank es. Und er überlebte. Was ist, Goldklumpen. Wirst du mit mir trinken?“
„Das wagst du nicht!“, sagte Steven hastig und zog sich lauernd auf seine Knie hoch.
Abyss erhob böse grinsend das Glas. „Du magst doch … Spiele.“ Das letzte Wort sprach er so deutlich aus, dass Gibblis Herz für einen Moment aussetzte. Ihre Hände krallten sich in den feuchten Boden. Er wusste es, oder?
Der Oceaner kniff seine Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. „Leg es weg, Mensch.“
Sein Tonfall klang fordernd und er sprach jedes Wort so langsam und drohend aus, dass Gibbli das Gefühl hatte, jedes Sandkorn unter seinen Füßen würde sich in ein winziges Eiskorn verwandeln. Auch Samantha blickte besorgt von Steven zu Abyss und wieder zurück.
„Weißt du, was ich am meisten verabscheue, Goldklumpen?“, fragte Abyss und drehte das Glas in seinen Fingern.
„Mich?“, fragte Steven leise.
„Überraschenderweise nicht“, antwortete Abyss. „Es gibt nichts, was ich weniger ausstehen kann, als die Kontrolle über etwas zu verlieren.“
„Dann tu es nicht!“, beschwor der Oceaner ihn.
„Sie entgleitet mir, Oca. Und ich gebe sie lieber selber bewusst ab, bevor es, warum auch immer, geschieht.“ Er hielt inne und fügte dann hinzu: „Das wäre sonst zu gefährlich für gewisse Anwesende und ich kenne dich, du würdest mich nicht aufhalten.“
Gibbli sah unsicher zu Samantha, doch deren ratloser Ausdruck sagte ihr, dass sie ebenso wenig verstand, was hier ablief, wie Gibbli selbst.
Mit offenem Mund legte der Oceaner den Kopf schief, offensichtlich überrascht, dass Abyss ihn Oca genannt hatte.
„Wenn ich wütend bin, dann bin ich es mit Absicht. Wenn ich etwas vernichte, dann vernichte ich es mit Absicht. Wenn ich jemandem weh tu, wenn ich jemanden töte, dann geschieht das, weil ich es so bestimmt habe. In meinem ganzen Leben gab es lediglich zwei Momente, in denen ich keine Kontrolle besaß.“ Abyss schloss die Augen. „Und einer, in dem ich sie beinahe verlor. Der Grund sitzt neben mir.“ Er öffnete sie wieder. „In den beiden Momenten gab ich sie freiwillig ab, an diese Flüssigkeit hier. Zwei Mal. Und zwei Mal überlebte ich. Es wird Zeit für ein drittes Mal.“
„Das ist Gift!“, flüsterte Steven völlig überzogen. Doch seine nächsten Worte zeigten, dass seine Reaktion dieses Mal durchaus berechtigt war. „Ein überaus wirksames Gift. Die Chancen stehen bei nicht einmal 30%, dass du überlebst!“
„Schütte es weg!“, rief Gibbli entsetzt.
„Halt dich raus!“, fuhr Abyss sie an. Sie schnappte nach Luft und wich ein Stück vor ihm zurück. Abyss bewegte das Glas langsam auf seine Lippen zu. Grinsend starrte er Steven an. „Ich beginne …“, seine Stimme bekam einen ablehnenden Unterton, „… Freund.“
„Nicht!“, schrien Samantha und Gibbli gleichzeitig. Währenddessen sprang Steven mitten über das Feuer auf Abyss zu. Doch in diesem Moment trank er es. Der Oceaner schlug ihm das Glas aus der Hand. Es flog durch die Luft. Die restliche Flüssigkeit spritzte über den Boden und versickerte zwischen den feinen Sandkörnern.
„Du beschränkter Mensch!“, schrie Steven, während die beiden miteinander rangen.
„Du Schwächling! Ich dachte, du magst Risiken!“, brüllte Abyss zurück. Gegen Stevens Stärke kam er nicht an.
„Du dachtest? Dein Ernst, Mensch? Du denkst? Mit dem Ding zwischen deinen Ohren, das du Kopf nennst? Wie lange, bis es wirkt?“ Der Oceaner war um einiges kleiner als Abyss, doch er hielt ihn mühelos auf den Boden gedrückt.
„Lass mich los!“, schrie Abyss, während er versuchte, sich von Stevens Griff zu befreien.
„Wie lange?“, wiederholte der seine Frage.
„WAS INTERESSIERT DICH DAS?“, brüllte Abyss zurück.
„Hört auf!“, rief Gibbli. Mit einem Schaudern dachte sie an das halbe Gehirn des Soldaten. Hilflos wanderte ihr Blick von dem leeren Glas am Boden zu Steven, dessen eiskalte Aura man fast um ihn herum flimmern sehen konnte. Sie sprang nach vorne, packte den Oceaner am Arm, um ihn wegzuziehen, was er völlig ignorierte. „Hilf mir!“, rief sie Samantha zu.
Die junge Frau trat ängstlich an sie heran und schien nicht recht zu wissen, was sie machen sollte. Dann krallte sie sich um einen Ast und zog ihn aus dem Boden heraus. Samantha holte aus und Gibbli wich zurück, als sie gegen Stevens Schädel schlug. Er zuckte ein kleines Stück von dem Ast weg, doch ansonsten schien es ihm absolut nichts auszumachen. Steven drehte ihr den Kopf zu, hob einen Arm und feuerte etwas ab. Gibbli erkannte sofort, um was es sich handelte. Samantha wurde nach hinten gedrückt und die dünnen Schnüre schlangen sich fest um ihren Körper. Gefesselt blieb sie auf der Seite liegen. Dann wandte er sich wieder dem Mann unter ihm zu.
„Geh weg von ihm!“, schrie Gibbli wieder und versuchte, seine Hände wegzureißen.
„Du willst die Kontrolle verlieren? Ich zeige dir, wie es sich anfühlt, die Kontrolle zu verlieren, mein törichter FREUND.“
Steven schubste Gibbli beiseite. Sie landete unsanft im feuchten Sand. Währenddessen fesselte er auch Abyss mit den Schnüren und verankerte sie tief im Boden. Gibbli bemerkte, wie Abyss‘ Bewegungen langsamer wurden. Es schien ihm Mühe zu bereiten, überhaupt die Augen offen zu halten. Sie rappelte sich auf und rannte wieder auf ihn zu, doch Steven stand schon hinter ihr und fing sie ab. Kurz bevor sie Abyss erreichte, hielt der Oceaner sie fest.
„Nicht“, knurrte Abyss müde. „Lass sie …“
Von weiter hinten hörte Gibbli Samantha irgendetwas rufen.
„Sieh hin, Mädchen“, sagte Steven und packte ihren Kopf, sodass sie ihn nicht mehr bewegen konnte. Seine eiskalten Finger bohrten sich in ihre Haut und Gibbli war sich sicher, dass das Blut unter ihnen gefror. „So sieht Verzweiflung aus. Dummheit, ja, aber auch wunderschöne Verzweiflung.“
„Was bezweckst du damit?“, flüsterte Gibbli.
„Ich weiß nicht, sag du es mir, das war seine Idee. Ich habe nur die Gelegenheit ergriffen.“
„Das war nicht … Lass sie … in … Ruhe … lass …“, brachte Abyss wieder hervor.
„Ich soll sie loslassen? Natürlich. Keine Sorge, ich muss sie nicht mehr festhalten.“ Steven trat einen Schritt zurück und Gibbli fiel vor Abyss auf die Knie. „Ja, so bleibst du jetzt, das ist gut.“ Er schlenderte langsam um sie herum und Gibbli spürte, wie sein Geist zu ihr vordrang, von ihr Besitz ergriff. Ihre Arme und Beine wurden immer schwerer, als befänden sie sich plötzlich wieder auf dem Planeten der Mog. Nur, dass es hier Steven war, der sie mit dieser Gedankenkraft zu Boden drückte.
„Gibbli“, flüsterte Abyss undeutlich.
Steven hockte sich neben Gibbli. „Was meinst du Mädchen, sollen wir ihn ein wenig ärgern?“
Sie brachte kein Wort hervor, als würde er ihre Zunge blockieren, als würde er alles an ihr blockieren. Das Einzige, was sie tun konnte, war weiterhin in diese grauen Augen zu starren, diese traurigen, grauen Augen, die versuchten sie zu erreichen. Oder wollte er sie überhaupt noch erreichen? Was wollte Abyss eigentlich?
Gibbli spürte, wie Steven das Messer aus ihrem Stiefel zog. Abyss wurde unruhiger und versuchte, sich in seinen Fesseln zu bewegen. Doch es gelang ihm nicht.
Mit seinem sehnigen Finger fuhr der Oceaner an der scharfen Klinge entlang. „Für eine Weile war ich davon überzeugt, dass du meinem Mädchen ein Vorbild bist, dass du ihr näher bringst, was es bedeutet zu leben, zu leiden. Stattdessen zeigst du ihr nichts als den sinnlosen Tod!“
„Sie wird nie … dein Mädchen sein!“, knurrte Abyss schwach. Er schaffte es nur mit Mühe, seinen Kopf zu heben.
Warum hatte er dieses dumme Zeug getrunken, dachte Gibbli. Er würde nicht sterben, oder? Er durfte nicht!
„Nicht mein Mädchen?“, fragte Steven und grinste. „Wirklich? Ja? Bist du dir da ganz sicher? Denkst du nicht, dass es etwas gibt, was sie und mich untrennbar miteinander verbindet?“
Panisch riss Gibbli die Augen auf. Er würde es ihm nicht sagen, oder?
„Nein. Nein, du kack Goldklumpen!“, rief Abyss und zerrte an den Schnüren. Dann fiel sein Kopf wieder seitlich in den Sand. „Euch … verbindet gar nichts“, sagte er dann etwas leiser.
„Wann nennst du mich endlich bei meinem Namen?“, fragte der Oceaner und fuhr mit der Klinge an Gibblis Hals entlang. Sie wagte kaum, zu atmen.
Dieses Mal war es Abyss, der die Augen aufriss. „Hör auf damit! Weg … von ihr!“
„Steven. Ein schöner Name, nicht wahr? Wir sind beide Oca. Eine Tatsache, die uns immer zusammen schweißen wird. Oder löten? Gibbli und Steven. Steven.“
Gibbli presste die Lippen aufeinander, während er mit der Klinge über ihre Haut strich. Abyss durfte es nicht erfahren! Sie versuchte, ihre Finger zu bewegen. Doch die hingen an ihr hinab in den Sand, als wären sie festgefroren.
„Sag ihn, Mensch“ Er wandte sich wieder Abyss zu. „Sag meinen Namen.“
„Wer trägt schon so … einen dämlichen Namen?“, knurrte Abyss erschöpft.
„Hach, wer weiß, mein Freund, wenn du das hier überlebst, kommt vielleicht irgendwann der Tag, an dem du ihn öfter lesen wirst.“
Gibbli schluckte. Sie musste Steven unbedingt aufhalten! Sie fühlte, wie etwas in ihr zu kochen begann. Langsam ballte sie ihre rechte Hand zur Faust.
„Ich sterb nicht“, murmelte Abyss. „Die Wirkung wär … sofort eingetreten. Ich hab … zum dritten Mal … überlebt.“ Er begann zu flüstern. „Ich hab den … Tod erneut besiegt.“ Sein Kopf schwankte nach oben und Abyss‘ Tonfall wurde etwas klarer. „Und deinen Namen kannst du dir sonst wo hinschmieren. Ich versichere dir, dass ich alles verabscheue, das diesen verfickten Namen trägt!“
Gibbli spürte, wie die festhaltende Aura plötzlich um sie herum schmolz. Sie holte aus und traf Steven mit voller Wucht mitten im Gesicht!
„Ha!“, entfuhr es Abyss.
Der Oceaner kippte überrascht weg, gleichzeitig rutschte Gibbli nach unten und landete auf allen vieren im Sand. Heftig atmend stützte sie sich im feuchten Boden ab. Irgendwo hörte sie erneut Samanthas Rufen in der Dunkelheit. Abyss lachte kurz auf. Und mit ihm Steven. Dann verstummte Abyss, während der Oceaner begeistert weiter lachte.
Steven hielt sich die Hände ans Gesicht und heulte taumelnd auf. „Ahhwwww, es tut so-ho weh!“
Gibbli hob den Kopf und blickte ihn voller Hass an. Er hörte auf mit seinem gespielten Stöhnen.
„Nein? Nicht lustig? Oh doch, ich finde schon. Genial!“, rief er. „Das war wundervoll! Ich bin so stolz auf dich, Mädchen!“ Plötzlich spürte sie seine eiskalten Hände. Er drehte sie herum und warf sich mit aller Kraft auf sie. „Gut gemacht.“
Abyss brüllte irgendetwas, was Gibbli nicht verstand. Steven drückte sie von hinten in den Boden. Sie spürte den kühlen Sand unter ihrer Wange. Das Messer in seinen Fingern glitzerte im Schein der Flammen, direkt vor ihren Augen.
„Pass auf, mein Mädchen, jetzt lassen wir ihn seine geliebte Kontrolle verlieren“, flüsterte Steven in ihr Ohr.
Gibbli stieß einen überraschten Laut aus, als die Spitze der Klinge in ihre Haut eindrang.
„Sie ist … NICHT DEIN!“, schrie Abyss. Verzweifelt wälzte er sich am Boden. „Nicht! Lass …“ Sein Kopf prallte plötzlich wieder seitlich im Sand auf.
In diesem Moment kam Gibbli die Idee. Abyss! Er hatte es ihr selbst übergeben. Sie hörte das leise Surren der Kugel, bevor es in der Luft fliegend aufleuchtete. Und es jagte mitten durch ihn hindurch. Steven schrie. Sein Griff lockerte sich und Gibbli ließ es erneut über seine Haut fahren. Die glühende Kugel warf ihn zurück. Schnell drehte sich Gibbli herum und krabbelte rückwärts von ihm fort. Währenddessen dachte sie es über sein Gesicht, über seine nackte Brust, an seinen Armen entlang und es gehorchte ihr, hinterließ brennend rote Furchen in der goldenen Haut.

 

„Kannst du nichts machen?“, Gibbli beugte sich besorgt über ihn und berührte seine leblosen Wangen.
„Ich bin kein Arzt, ich … ich hab doch keine Ahnung“, antwortete Samantha hilflos. „Aber er … er lebt wohl. Irgendwie.“
„Aber er wacht nicht auf!“
„Wacht nicht aaaaauuuf!“, heulte Steven mit heller Stimme. Er lag ein paar Meter weiter erschöpft und blutbespritzt im Sand.
Die beiden ignorierten ihn.
„Sicher wegen diesem Gift. Aber er sagte, wenn es gewirkt hätte, wäre er längst … er wird es schon schaffen, bestimmt. Und er sieht besser aus als Steven.“ Sie drehte sich zu dem Oceaner um, dessen leises Stöhnen jetzt über die Wellen des Meeres hinweg hallte.
Gibbli antwortete ihr nicht. Sie hatte die vergangene halbe Stunde vergeblich versucht, Abyss aufzuwecken.
„Wir warten ab, bis die ersten Gondeln kommen und dann bringen wir sie in die Akademie“, sagte Samantha bestimmt. „Dann suchen wir jemanden, der uns hilft. Von dort aus können wir eine Nachricht an Nox schicken. Vielleicht geht es Bo schon besser. Wenn oceanische Technologie hier oben funktioniert, dann geht vielleicht außerhalb der Stadt auch ihr Marahang wieder.“
Gibbli nickte. An Nox und Bo hatte sie gar nicht mehr gedacht.
„Er wird wieder.“ Zuversichtlich legte Samantha eine Hand auf ihre Schulter. „Und der andere Volltrottel da hinten sicher auch.“
Eine Weile lauschten sie dem Rauschen des Ozeans und Stevens Gejammer, das immer wieder von seinem hysterischen Lachen durchbrochen wurde. Er konnte sich wohl nicht so recht entscheiden, ob er lieber der Schmerzen wegen klagen und heulen oder von Gibblis Angriff auf ihn begeistert sein wollte.
„Gibbli? Was denkst du?“, fragte Samantha leise.
Sie blickte in das sommersprossige Gesicht und atmete aus. Langsam gewöhnte sie sich an den schwefeligen Gestank. „Ich denke, wir brauchen einen Kapitän.“
Samantha schüttelte traurig den Kopf.
„Wir brauchen Sky“, murmelte Gibbli. Düster starrte sie in die Flammen.
Sie dachte darüber nach, wie man die beiden Männer am besten zu den Gondeln schaffen konnte. Doch in Abyss‘ Fall war das gar nicht mehr nötig. Zwei Stunden später kam er langsam zu sich. Er wirkte zwar etwas benommen, abgesehen davon, schien er okay zu sein.
„Abyss“, sagte Gibbli hastig, als sie bemerkte, dass er sich bewegte.
Er knurrte etwas Unverständliches. Plötzlich schreckte er hoch, riss die Augen auf und blickte sie direkt an. Überrascht wich sie ein Stück zurück. Scheinbar beruhigt, dass es ihr gut ging, ließ er seinen Kopf erleichtert in den Sand zurückfallen.
„Versprich mir was“, flüsterte sie.
„Alles“, murmelte er abwesend und hielt sich den Schädel fest.
„Trink dieses Zeug nie wieder.“
Er zögerte, blinzelte sie kurz an. „Meinetwegen“, brummte er dann knapp und legte die Arme über sein Gesicht. „Nie wieder.“
Nach ein paar Minuten wuchtete er sich auf. Sein Oberkörper schwankte leicht hin und her, während er abwesend ins Feuer starrte.
„Hey! Du! Mein liiiiiieber Freund!“, rief Steven vom Boden aus, der offensichtlich erst jetzt bemerkt hatte, das Abyss wieder wach war. „Hast du gesehen? Mein wundervolles Mädchen! So perfekt … Was sie … oh nein, schwindelig.“ Er stöhnte und schloss die Augen.
„Kannst du nicht eine Taste in ihn einbauen, die ihn abschaltet? Wir brauchen auch keinen Anschalter mehr“, murmelte Abyss. Doch bevor Gibbli etwas erwidern konnte, fragte er knapp: „Sam?“
Gibbli nickte zu den abgestorbenen Pflanzenresten hinüber, die ins Moor hinein führten. „Sie wollte schon ein paar Dinge aus den Rettungskapseln hinab bringen und nachsehen, ob die Gondeln-“
„Sie sind da, die ersten sind schon durch!“, rief Samantha aufgeregt hinter ihnen und rannte auf sie zu.
Erfreut blickte sie Abyss an, der sich aufrichtete. Überraschend sicher stand er im Sand und begann damit, diesen über das Feuer zu schütten.

 

„Wirst du es Sky erzählen? Dass du … von dem …“, begann Gibbli, als sie fertig zum Aufbruch waren.
„… dem Gift?“, vollendete Abyss den Satz. „Ich bin mir sicher, wenn er rauskriegt, dass ich das noch mal gemacht hab, schmeißt er mich aus der Crew.“
„Willst du, dass er das tut?“, fragte sie.
Er kniff die Augen zusammen. „Wirst du mit mir kommen, wenn er es tut?“
Gibbli blickte ihn mit offenem Mund an. Abyss wollte die Crew verlassen? Weg von der Stadt? Sich gegen den Kapitän stellen? Wenn sie ging, würde sie Djego nicht mehr sehen, kam es ihr plötzlich in den Sinn. Schnell verscheuchte sie die Gedanken an ihn. Warum musste sie nur ständig an ihn denken, sie hatte doch bisher kaum mit ihm zu tun gehabt? Als sie Abyss nicht antwortete, bückte er sich und packte Steven an den Haaren.
„Dumm Mensch … Nicht schön, nicht … nett“, murmelte der Oceaner abwesend.
Abyss‘ Mundwinkel zuckten nach oben, während er das eingetrocknete Blut und die vielen Schnitte auf Stevens Körper betrachtete. Dann hob er seinen Kopf und die grauen Augen funkelten Gibbli bedrohlich an. „Gut gemacht, kleine Schwester“, sagte er leise. Das letzte Wort betonte er besonders deutlich. Abyss setzte ein mörderisches Grinsen auf und wandte sich abrupt von ihr ab. Rücksichtslos schleifte er Steven durch den Sand zu den Gondeln.
Gibbli blickte nach oben, in den Himmel. Mittlerweile hatte er eine dreckige, dunkelgraue Farbe angenommen. Es wurde bereits heller. Dann folgte sie ihm ein wenig verunsichert.
„Er ist ganz schön grob zu Steven“, meinte Samantha neben ihr.
Gibbli zuckte mit den Schultern. „Nox frisst Menschen.“
„Stimmt. Du hast recht. Ich versuche das zu verdrängen.“

 

Nervös kaute sie an ihren Fingernägeln. Abyss drückte ihre Hände wortlos nach unten. Sie atmete tief ein. Mit einem lauten WUSCH schraubte sich das Ding heraus. Gibbli betrachtete den würfelförmigen Hohlkörper mit einem mulmigen Gefühl. Wie er langsam emporstieg und das Wasser der Vertiefung um sich herum in plätschernden Wellen ausschlug, das sah nicht nach etwas aus, in das man einsteigen sollte. Die Gondel hangelte sich an den Schienen entlang über den Weg.
„Die nicht“, rief Gibbli und packte Samantha am Arm, die gerade einsteigen wollte, als sich die Öffnung auf der Vorderseite aufschob.
„Das ist jetzt schon die fünfte! Die sieht doch sicher aus!“, widersprach Samantha.
Gibbli deutete auf einen Riss in einer der Sichtscheiben, die an allen vier Seiten eingearbeitet waren. Das Glas war dick und die Gondel innen trocken, nicht wie die davor, doch der kleine Sprung brachte Gibbli zum Zittern.
Sie warteten, während sich das Gefährt langsam weiter bewegte. Schließlich schlossen sich die Türen der Gondel. Dann tauchte sie auf der anderen Seite wieder ein, in den zweiten Weiher aus Wasser. Gibbli verfolgte die aufsteigenden Luftblasen, als das ramponierte Gefährt hinab in die Tiefe sank.
„Die nächste“, flüsterte Samantha und umklammerte ihre Decke, während die neue Gondel aufstieg.
Gibblis Blick wanderte zu Abyss, der ungeduldig ausschnaufte. Er hatte Steven achtlos neben sich auf den Boden geworfen. Sie schluckte. Diese kleinen Gefängnisse erinnerten sie an die runde Tauchkapsel, mit der sie zum ersten Mal zur Mara hinab getaucht waren. Genauso alt. Genauso zerschlissen. Genauso unsicher und nur danach schreiend, einfach zu implodieren.
„Nicht“, sagte Gibbli, als Samantha sofort hinein sprang, nachdem sich der erste Spalt an der Öffnung bildete.
Gibbli schüttelte den Kopf und ihre Füße fühlten sich an, wie auf der Stelle festgewachsen. Plötzlich spürte sie seine großen Hände an ihren Schultern. Abyss schob sie mit einem Knurren hinein. Hastig drehte sie sich um und starrte ihn an. Wortlos erwiderte Abyss ihren Blick. Seine Augen sagten, wenn sie sich bewegte, würde er sie fesseln und wieder hinein werfen. Na gut. Früher oder später mussten sie hinab fahren. Aber je später, desto besser. Doch jetzt konnte sie es nicht länger hinauszögern. Er nickte grimmig. Gibbli hätte erwartet, dass er auch Steven zu ihnen hereinzog. Doch stattdessen trat Abyss einen Schritt zurück.
„Was?“, flüsterte Gibbli. „Nein! Nicht. Nein!“
Hastig wollte sie wieder hinaus springen. Doch ihre Hände schlugen nur gegen das Glas der Öffnung, die sich verriegelte.
Ihre aufgerissenen Augen spiegelten sich in der Scheibe wieder. Ihr Atem beschleunigte sich. Sie wagte es nicht mehr, sich zu bewegen. Seine emotionslose Miene auf der anderen Seite brannte sich in ihr fest wie ein Hologramm. Ihr Kiefer zuckte und Gibbli erstickte ein leises Wimmern. Warum kam er nicht mit? Mit versteinertem Ausdruck beobachtete sie ihn, während das Wasser über das Glas spritzte. Langsam fuhr die Gondel nach unten und entfernte sich immer weiter von ihm. Sekunden später umgab das Wasser sie ganz und Abyss‘ Gestalt wirkte verschwommen. Er bewegte sich! Jetzt packte er Steven und drehte sich weg, machte sich bereit, in die nächste Gondel zu steigen. Warum fuhr er getrennt von ihr?
Gibbli bemerkte, wie Samantha sie besorgt musterte. „Unheimlich, wie schnell wir untertauchen, ohne es richtig zu spüren.“
Gibbli schwieg. Warum ließ er sie alleine? Dort oben, wie in einer anderen Welt, konnte sie den Umriss der nachfolgenden Gondel erkennen. Diese tauchte ebenfalls langsam in das dreckige Wasser ein.
„Was ist das?“, fragte Samantha plötzlich.
„Tangwälder“, antwortete Gibbli roboterhaft, mit den Gedanken ganz wo anders.
Lange Algen schlängelten sich hinter den Fenstern. Die Gondel kämpfte sich durch federartige Pflanzen und Blätter in dreckigem Grün. Kleine Fischschwärme stoben aufgeregt davon.
„Bist du okay?“, fragte Samantha leise.
Gibbli stellte sich vor, wie die langen Ranken sich um ihren Hals wickelten. Sie würde ersticken, ertrinken, sterben! Doch es dauerte nur ein paar Sekunden, da trübte sich das Wasser. Tangwälder brauchten Licht, um zu überleben. Das verdreckte Wasser in den seichten Gebieten um die Insel herum, trug ebenfalls nicht zu einer großen Ausdehnung bei. Und die Pflanzen verschwanden aus ihrem Blickfeld und ihren Gedanken.
„Bo hat mir erzählt, dass du Tauchen nicht besonders magst.“
Sie tauchten tiefer und es wurde noch dunkler. Gibbli drückte die Augen aufeinander und sank langsam auf den Boden. Dann lehnte sie sich an die Außenwand und versuchte, ruhiger zu atmen. Flacher. Atme langsamer, hörte sie Stevens helle Stimme in ihrer Erinnerung. Das hatte er auf dem Planeten der Mog gesagt, immer und immer wieder. Gibbli wurde etwas ruhiger. Der Druck würde sich langsam erhöhen. Sie kannte das hier schon. Die Gondel würde sie zurück in die Akademie bringen. Dort gab es weite Gänge und Räume, mit viel Luft.
Warum ließ er sie alleine?

 

Die Zeit verstrich und Gibbli gewöhnte sich an das monotone Klackern der Schienen. Sie zog ihre Knie an sich und stützte ihren Kopf darauf ab.
„Hast du Angst?“, fragte Samantha nach einer Weile. Sie saß ihr gegenüber, die Füße ausgestreckt am Boden.
Gibbli zuckte mit den Schultern. Sie wusste es nicht. Die einzige Frage, die ihr im Kopf umher geisterte, war, warum sich Abyss so seltsam ihr gegenüber verhielt. Oder war er schon immer so gewesen? Natürlich war er das. Unberechenbar. Ein Mörder. Wahrscheinlich machte sie sich zu viele Gedanken, zerdachte nur wieder alles, wie er immer sagte. Aber all die Verbrechen, und jetzt begingen sie ein weiteres und würden ein U-Boot aus dem Gewahrsam der elitären Flotte stehlen …
„Denkst du, wir tun das Richtige?“, fragte Gibbli.
Samantha dachte nach. „Du meinst, ob wir auf der richtigen Seite stehen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Aber glaub mir, Nox willst du auch nicht gegen dich haben. Und wir leben, oder?“ Sie zuckte mit den Schultern und nickte dann zum Rückfenster der Gondel hin. „Stell dir vor, wir würden uns gegen deinen Kapitän stellen, dann wären die beiden da oben unsere Feinde.“
Das wäre ihr Untergang, dachte Gibbli. Samantha hatte recht, auch wenn es der jungen Frau offensichtlich nicht gefiel. Wer sich gegen Sky stellte, hatte sowieso schon verloren. Er war erfahren und er hatte seine Leute unter Kontrolle. Oder auch nicht. Zweifel stiegen in ihr hoch, als sie wieder an die beiden toten Soldaten dachte. Das hätte Sky sicher nicht gewollt. Wahrscheinlich auch nicht ihr Vorhaben, ohne sein Wissen die Mara zu stehlen. Und dann war da Abyss, der ihretwegen fast einen Planeten zerteilt hätte, sich vor ein paar Stunden beinahe umgebracht hätte. Nein, der Kapitän hatte keine Ahnung, was seine Crew tat. Sie würden verdammten Ärger bekommen.
„Manchmal denke ich, nicht genug zu sein“, sagte Samantha leise.
Gibbli blickte überrascht auf. Nicht genug sein, das kannte sie gut. Aber warum sollte Samantha so etwas denken? Gibbli wartete, dass sie weitersprach. Doch das tat sie nicht. Erwartete Samantha, dass Gibbli nachfragte? Ein guter Trick, um jemanden zum Sprechen zu bringen. Doch darauf würde Gibbli nicht hereinfallen. Du warst schon immer egoistisch, kam es ihr plötzlich in den Sinn. Hatte das nicht Abyss einmal gesagt? Samantha konnte es wirklich ernst meinen, oder?
„Warum?“, fragte Gibbli nach ein paar Minuten, doch neugierig geworden.
Samantha blickte aus dem Sichtfenster und schloss für einen Moment die Augen. „Ich bin nur ein Landmensch.“
„Und?“ Gibbli verstand nicht, worauf sie hinaus wollte.
„Nichts und. Genau das.“
„Ich bin auch ein Landmensch.“
„Du bist zum Teil ein Oceaner. Du bist unter dem Meer aufgewachsen. Du warst auf der Akademie. Außerdem bist du die Technikerin, du gehörst zur Crew.“
„Du gehörst auch … dazu.“ Gibbli stockte, stimmt, das tat sie ja gar nicht.
„Nein. Für die anderen bin ich nichts weiter als ein Anhängsel von Nox. Ich gehöre hier nicht her. Und zurück kann ich auch nicht.“
„Du-“, Gibbli brach ab. Sie wusste gar nicht, was sie darauf erwidern sollte.
„Ist okay. Es macht mir nichts aus. Denn Nox gehört ebenfalls nicht hier her. Er gehört ins Wasser, zu seinem Volk. Weißt du, Bo denkt, wir sollten bleiben. Sie ist davon überzeugt, dass wir bei Sky sicher sind. Sie vertraut ihm, hat ständig auf Nox eingeredet, dass er doch der Crew beitreten soll. Ich hatte ihr schon fast geglaubt. Aber dann seid ihr aus diesem Portal zurückgekommen. Und jetzt, wo ich euren Kapitän kenne, denke ich, dass Nox Recht hat. Weder ich noch Nox gehören dazu.“
Gibbli schwieg. War Sky so schlimm? Sicher, er verhielt sich dominant und streng, wie alle Flottenführer. Aber er beschütze sie doch.
„Merkst du, wie sinnlos das ist, Gibbli? Ich merke es ja selbst. Sich schlecht zu reden, obwohl man es gar nicht ist? Aber euer Kapitän ist schlecht. Er ist grausam und scharrt diese Verbrecher um sich. Ich sage nicht, dass diese elitären Soldaten von eurer Akademie besser wären, aber der Plan eures Kapitäns, die Führung des gesamten Planeten zu übernehmen, klingt so abgehoben und krank.“
Wenn jemand das schaffen konnte dann Sky, oder? „Wer soll es sonst tun?“
„Niemand“, meinte Samantha. „Oben an Land ging es doch auch ohne irgendwelche Anführer. Aber was weiß ich schon. Dort gab es auch keine komischen Alienstädte. Keine Meermenschen. Keinen Nox.“ Sie lächelte. „Hier unten ist alles kompliziert. Ich habe nie geplant, hier her zu kommen, unter das Wasser, aber jetzt hält mich etwas hier fest. Ich wollte eigentlich etwas ganz anderes machen.“
„Kuchenbäcker“, erinnerte sich Gibbli.
„Ja, genau! Woher weißt du das?“
„Ich … Bo hat mir das erzählt“, log sie.
„Bo … ich hoffe, es geht ihr gut.“ Samantha sah wieder aus dem Fenster. „Sie ist stark. So wie du.“
„Ich bin nicht stark.“
„Ich glaube, du bist stärker, als du denkst.“
Nachdenklich blickte auch Gibbli hinaus. Hier in der Tiefe wurde das Wasser klarer. Das Licht der Gondel zog ein paar Fische an, die aufgeweckt an die Scheiben stupsten. Gibbli stellte sich vor, wie ein gigantischer Rochen sein Maul aufriss und ihre Kapsel mit einem Happs verschlang. Nein, sie war klein. Sie waren alle schwach und klein, so winzig klein im Angesicht dieser unendlichen Weite dort draußen. Dieser weite Raum, der in dieser ihr so verhassten Flüssigkeit bis in die finstersten Gräben reichte …

 

Gewaltige Trommelschläge durchdrangen das schwarze Wasser. Zischende Geräusche von umher flitzenden Körpern, die sie bedrohlich streiften. Zwecklos, dachte Bo.
„Wir umzingelt sind!“, rief Nox in ihren Gedanken.
In atemberaubendem Tempo rauschten die Wesen an ihnen vorbei, um sie herum. In der Ferne erblickte Bo riesige Kristalle, bestimmt drei Mal so groß wie sie selbst, die sich um den Eingang einer Höhle erstreckten.
„Ich sagte dir, das war ein Fehler!“, hörte sie seine Stimme wieder. „Wir sein könnten jetzt bei meinem Volk!“
„Da hinten, eine Lücke!“, gab sie telepathisch zurück.
Der Rhythmus der Trommeln änderte sich, wurde tiefer und schneller. Bo spürte es mehr, als dass sie es hörte. Das Geräusch durchdrang ihren ganzen Körper und erschütterte ihre Knochen. Waren das die Maschinen der Hochseemenschen? Bo hatte keine Ahnung von ihrer Technologie, geschweige denn von ihrer Lebensweise.
Die beiden tauchten durch die Dunkelheit. Bo hielt auf den gigantischen Berg zu. Er erstreckte sich mitten über dem Meeresboden. Seine Umrisse waren kaum zu erkennen. Irgendwo vor ihnen leuchteten orange Kugeln auf. Waren das Fenster? In dem Berg musste sich eine Behausung befinden!
„Stillstand! Sofort!“, drang es durch ihren Kopf. Sie spürte Nox neben sich. Ihr Bruder war schneller. Er packte sie am Arm und riss sie mit sich nach vorne, wirbelte dann mit ihr herum, um sie zum Halten zu bringen.
Bo überschlug sich im Wasser. „Was tust du? Die Hochseemenschen kriegen uns!“
„Das kriegt uns!“, brüllte er und zog sie mit sich in die andere Richtung, zurück zu den Hochseemenschen.
„Das?“ Und plötzlich erkannte Bo, dass der Berg gar kein Berg war. Die orangefarbenen Kugeln bewegten sich! Und die spitzen Kristalle fuhren weiter auseinander wie ein …
„In dieses Maul passt ja eine ganze Stadt!“, rief sie fasziniert in Gedanken.
„Ein kleiner Fangzahn.“
„Fangzahnfische werden nicht länger als 15 Zentimeter!“ Das Ding war sicher über hundert Meter lang und das größte Lebewesen, das Bo je erblickt hatte! Der Meeresgrund bebte, als es sich erhob.
„Denken das Küstenlandmenschen? Sogar Landmenschen im Meer wissen, das nicht stimmt. Er ist Baby.“
Beeindruckend! Wie groß war dann erst ein ausgewachsener Fangzahn? Ein tiefes Grummeln durchbrach die Trommelgeräusche und die Hochseemenschen huschten auseinander. Wieder änderte sich der Rhythmus der Schläge und kam jetzt von einer anderen Seite aus.
„Warum tun sie das?“, fragte Bo, während sie zwischen hunderten von Meermenschen vor dem Wesen flüchteten.
„Sie führen es“, hörte sie Nox ihr zudenken. „Weg von uns und ihren Städten.“
Bo nickte erfreut. So funktionierte das also. „Das ist gut! Dann weiter?“
Missmutig folgte er ihr.

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