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Kapitel 16: Der Deal (Bis in die tiefsten Ozeane)

Ein eisiger Lufthauch streifte Gibblis Gesicht. Erschrocken blickte sie hoch, direkt aus dem Frontfenster der Mara. Sie befand sich wieder in ihrem eigenen Körper. Warum war es hier plötzlich so kalt? Ihr war nicht klar gewesen, dass Sky mit ihnen so ein hohes Risiko einging. Dabei hätte sie es besser wissen müssen. Fröstelnd schlang sie ihre Arme um sich. Jack hatte ihnen eine Falle gestellt. Aber wieso ließ er sie gehen? Wieso hielt er sie nicht auf? Unruhig trat sie einen Schritt vom Fenster zurück. Wo befanden sich eigentlich all die kleinen Fische, die das U-Boot da draußen sonst immer umgaben? Eine gespenstische Stille durchdrang ihren ganzen Körper und ihr wurde langsam bewusst, dass Cora aufgehört hatte zu singen. Sie wünschte sich, Abyss würde jetzt neben ihr stehen. Irgendetwas zog Gibbli nach unten. Etwas, gegen das sie sich mit aller Kraft stemmen musste, um aufrecht stehen zu bleiben. Da war es wieder, dieses Gefühl, als würde sich die Schwerkraft verändern. Und zum zweiten Mal in ihrem Leben spürte sie seine Anwesenheit. Die Zeit dehnte sich wie zäher Teig, als sie sich langsam umdrehte.
Cora stand noch immer auf dem Stuhl und strahlte. Doch sie blickte nicht Gibbli an, sondern nach oben.
Dort stand jemand! Nur wenige Meter von ihr entfernt, vor dem runden Tisch: Der Mann, der diese unheimliche Kälte in ihr erzeugte, der Mann, der für diese bedrückende, nach unten ziehende Kraft verantwortlich war, der eisige Mann aus dem Zug.
Die dichten Haare standen ihm wirr vom Kopf ab und seine Haut glänzte blass golden. Er war weder dünn noch dick, weder groß noch klein, dennoch gab er ein eindrucksvolles Bild ab. Dabei trug er nichts weiter als eine schillernde Hose. Seine linke Hand hielt das mechanische Küken von Cora mit festem Griff umschlungen. Seine nie zwinkernden Augen strahlten wie zwei heiße Sterne, die alles verbannten, was ihnen zu nahe kam. Gibbli spürte den starrenden Blick, der sie zu durchleuchten schien, durch ihre Kleidung hindurch und ihre Haut, bis auf die Knochen.
Sie öffnete den Mund, doch nur ein Hauch verließ ihre Lippen: „Steven.“
Er grinste dreckig und ihr Atem beschleunigte sich. Mit einer schnellen Bewegung warf er das Küken achtlos beiseite. Es fing sich in der Luft und flatterte zu Boden, wo es aufgeregt hin und her lief.
Dann begann er zu sprechen: „Du besitzt Kraft, wenn es darauf ankommt. Ich wollte dich testen und hoffte so sehr, dass du zuschlägst. Ich zählte die Sekunden, du hast wirklich lange gezögert. Dennoch hast du dich letztendlich dazu aufgerafft, es zu tun. Gut gemacht.“
Gibbli wurde sofort klar, wovon er sprach. Er wusste, dass sie es war, die ihn mit der Eisenstange niedergeschlagen hatte. Der Mann setzte sich langsam in Bewegung und trat näher. Sein Gang wirkte schwer und gleichzeitig elegant, als seine nackten Füße auf dem Metallboden aufsetzten.
„Ich mag das, weißt du? Diese brutale Gewalt. Ich wusste, du würdest etwas tun, aber diese Stange hat mich überrascht, das hatte ich nicht erwartet. So kaltblütig. Ich bin stolz auf dich.“
Gibbli fing an zu zittern. Er WOLLTE, dass sie ihn damit schlug? Was tat er hier überhaupt? Wer war er? Warum war er hier? „Wie-“
„-ich hier reinkomme?“, unterbrach er sie und schritt langsam an den Konsolen vorbei. „Ich bitte dich. Ist das nicht offensichtlich?“ Seine Worte jagten wie Blitze durch ihren Körper. Er sprach leise, doch seine Stimme hallte so klar und hell durch die Zentrale, dass man diese wahrscheinlich sogar oben in der Galerie noch deutlich hören konnte. Jetzt wandelten sich seine Worte zu einem geisterhaften Flüstern. „Ich habe dem fürchterlichen Rod geholfen, dieses wunderschöne U-Boot zu bauen. Nun, eigentlich habe ich es entwickelt und er tat, was ich verlangte. Magst du es? Natürlich magst du es.“
‚Lauf!‘, schrie eine Stimme in Gibblis Kopf. Aber ihr Körper gab dem Drang loszurennen nicht nach. Ihre Beine schienen sich mit dem Boden verbunden zu haben. Panisch schnappte sie nach Luft. Einen halben Meter hinter ihr befand sich das große Frontfenster. Wenn sie zur Seite auswich, könnte sie vielleicht in den Maschinenraum entkommen. Gibbli wollte sich umdrehen, um ihn nicht mehr sehen zu müssen, doch er hielt ihre Aufmerksamkeit gefangen.
„Wer-“
„-ich bin? Komm schon Mädchen, du spürst es.“ Steven stolzierte um die drei Stühle herum. Auf einem stand Cora, die ihm aufmerksam mit ihren Glubschaugen folgte. Das Kind strahlte ihn bewundernd an, wie ein unterwürfiger Diener, der all seine Befehle befolgen würde, mochten sie noch so grausam sein.
Gibblis Augen weiteten sich, als sie es begriff. Steven war Oceaner. Für einen Moment konnte sie ihr eigenes Herz so laut schlagen hören, dass sie sich wunderte, dass es nicht auf der Stelle zersprang. Steven war einer der drei Wächter von Ocea!
„Geht doch“, sagte Steven zufrieden. Er stand jetzt direkt vor ihr und es fühlte sich an, als hätte seine Kälte alles an ihr erstarren lassen. „Du hast es erkannt, nicht wahr?“
Er schlich um sie herum und musterte sie mit seinem durchdringenden Blick. Dann beugte er sich zu ihr herab. Sein Gesicht stoppte nur einen knappen Zentimeter von ihr entfernt, doch er berührte sie nicht.
„Ich unterbreite dir ein Angebot“, hörte Gibbli sein Flüstern an ihrem Ohr.
Sie hielt die Luft an, nicht fähig auch nur ein Wort zu sagen.
„Begleite mich in meine Stadt.“ Er bewegte sich, bis er hinter ihr stand und sein kalter Atem an ihren Hals strich. Noch immer fühlten sich ihre Beine an wie festgeklebt. Im nächsten Augenblick spürte Gibbli seine sehnigen Finger auf ihren Schultern. „Das ist es doch, was du immer wolltest. Oder etwa nicht?“
Als sie nicht antwortete, beugte er sich um sie herum, um ihr Gesicht zu sehen. Er fing an, mit offenem Mund zu grinsen.
„Ich zeige dir etwas. Folge mir.“ Steven ließ sie los und stolzierte zurück nach oben.
Wie in Trance setzten sich Gibblis Füße in Bewegung. Cora sprang vom Stuhl und hüpfte ihr aufgeregt hinterher. Am runden Tisch blieb der Mann stehen. Gibbli hielt einigen Abstand zu ihm und betrachtete seine Hand, die sich bedächtig auf die milchige Kugel legte. Mit geweiteten Augen und offenem Mund starrte Gibbli das Bild an, das sich im Inneren formte. Goldene Bauten erstreckten sich über viele Etagen hinweg übereinander.
„Ja“, sagte Steven leise. „Ocea. Die Landmenschen gaben unserer Stadt diesen Namen. Vermutlich wegen dem Ort, den sich unsere Kolonie dafür aussuchte. Und hier befindet sich der Eingang.“
Bevor Gibbli die genaue Position erkennen konnte, ließ er das Bild mit einem Wisch seiner Hand wieder verschwinden.
„Berühre die Kugel.“
Sie streckte automatisch die Hand aus, im selben Moment wurde ihr bewusst, was sie tat und schreckte zurück.
„Nein“, antwortete Gibbli sofort.
Auf keinen Fall würde sie dieses Ding noch einmal anfassen. Diese Technologie zog sie an, aber sie tat ihr auch weh. Sie wollte das nicht! Gibbli fühlte, dass ein Stück in ihr anfing, sich ihm zu widersetzen. Am liebsten wäre sie losgerannt, weg von ihm, weg von dieser Kälte, doch ihre Beine gehorchten ihr noch immer nicht.
„Es tut weh, nicht wahr mein Schatz?“ Steven grinste und fing wieder an, um sie herum zu gehen, dabei ließ er sie nicht aus den Augen. „Je grausamer deine Taten sind, desto stärker wirst du sein“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Je wütender du bist, desto besser kannst du es kontrollieren. Je mehr Schmerzen du bereits in dir trägst, desto weniger wird dich diese Technologie verletzen.“
Steven ließ von ihr ab. Er blickte nach vorne aus dem Frontfenster und ignorierte das goldene Kind, das ihn folgsam anstarrte.
„Du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Überraschung es für mich war, im Zug deine Anwesenheit zu spüren. Zu erfahren, dass du existierst … Ich kann es mir nicht erklären. Und du hast durch das heilende Auge geblickt, nicht wahr? Ja, das hast du, ich sah es dir vorhin an deinem Gesicht an, dein Geist befand sich nicht an diesem Ort. Nur Jeff war dazu im Stande. Das heißt, du stammst auch von ihm ab. Also muss er … vielleicht mit Mara? Ein zweites Kind, vor ihrem Tod, von dem Rod nichts wusste? Nun, ich werde es herausfinden, doch das hat Zeit.“ Wieder wandte er sich Gibbli zu und machte nur wenige Millimeter vor ihrem Gesicht halt. „Wir können einen neuen Wächter gut gebrauchen. Auch wenn ein klein wenig menschliches Blut in dir fließt, bist du eine von uns. Mein Mädchen. Komm mit mir nach Hause und ich zeige dir, welche Macht in dir steckt!“
Gibbli ertappte sich dabei, wie sie tatsächlich über sein Angebot nachdachte. Sie könnte ihre Reise nach Ocea verkürzen und sofort in die verbotene Stadt gelangen. Dennoch spürte sie die Gefahr, die Grausamkeit, die von ihm ausging. Und was war mit den anderen? Sky, dessen Absicht ihr noch nicht ganz klar war. Bo, die unbedingt diese Stadt sehen wollte. Und Abyss. Was war mit ihm? Abyss, der sich freiwillig gefangen nehmen ließ, nur um dem Geheimnis Oceas näher zu kommen? Abyss, der mit ihr redete wie sonst niemand, Abyss, der sie akzeptierte.
Steven lachte auf. „Warum zögerst du, Schatz?“ Dann schien er plötzlich zu verstehen. „Ou. Du machst dir Gedanken über deine lächerliche Crew, nicht wahr?“ Seine bedauernde Miene bei diesen Worten schien offensichtlich gespielt und sofort grinste er wieder. „Keine Sorge, die sind in wenigen Minuten Geschichte.“
„Was?“, fragte Gibbli entsetzt.
„Du überrascht mich. Dir liegt doch nicht etwa was an ihnen?“ Er fasste sie von hinten an den Schultern und Gibbli zuckte zusammen. „Jeff und ich werden deine Familie sein. Du gehörst nicht hier her. Du hast hier niemanden!“
„Das ist nicht wahr“, flüsterte sie leise.
„Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass sie dich hier haben wollen?“
„Du lügst!“ Sie dachte an Abyss. Abyss, der sie ständig dazu aufforderte, mit ihm zu reden. War er vielleicht genervt von ihr? Gibbli versuchte, ihn aus ihrem Kopf zu drücken, doch sein Gesicht tauchte so klar in ihren Erinnerungen auf, als würde er vor ihr stehen.
„Für sie bist du nichts weiter als Dreck. Eine Belastung. Sie wollen dich nicht. Sie brauchen dich nicht“, sagte Steven wieder.
Während er abermals um sie herum schlich, überschlugen sich Gibblis Gedanken. Das entsprach nicht der Wahrheit! Oder? Sie hatte das Schiff repariert! Aber der Kapitän hatte Gibbli nicht mitgenommen, weil sie nicht tauchte. Er hielt sie für unfähig.
„Hast du dich nie gefragt, warum du von den Menschen abgelehnt wirst? Warum sie dich entweder meiden oder verfolgen, nein? Von außen gesehen wirken wir kalt. Dein Einfluss reicht vielleicht nicht so weit wie der meine, aber er existiert. Du bist offensichtlich nicht in der Lage, ihn zu steuern. Wenn du es wünschst, kann ich dir beibringen, ihn zu kontrollieren. Komm mit mir! Merkst du es nicht? Du beeinflusst sogar mich. Komm schon, du bist mein Mädchen, denk nach mit deinem Gehirn! Sind dir nie Dinge aufgefallen, Veränderungen, wenn sie sich dir nähern?“
Gibbli dachte an Mr. Plotz, der Sir Brummer davon überzeugt hatte, ihre Strafe abzumildern. An Somal, dem die Gier plötzlich ins Gesicht geschrieben stand, als er sich auf sie hatte stürzen wollen. An Abyss, der im Gefängnis davon sprach, dass er am liebsten in ihre Haut beißen würde und sich zurückhalten musste, ihr nicht sofort alle Klamotten vom Körper zu reißen. Doch dann hatte er ihr diese eine Frage gestellt und sie hallte durch ihre Gedanken und mähte alles andere nieder: ‚Wirst du meine kleine Schwester sein?‘
Abyss war nicht so. Abyss mochte sie. Niemals würde sie Steven folgen! Gibbli wollte nicht mit ihm kommen. Er war kalt. Er war grausam. Er war schlimmer als dieser Rod, Coras Vater! Was hatte sie ihm entgegenzusetzen? Was würde er tun, wenn sie sich weigerte? Würde er sie trotzdem mitschleifen?
„Nein? Du willst nicht? Das ist schade. Wenn du mich nicht freiwillig begleitest, hat dein freier Wille keinen Wert für mich.“
„Wirst du mich dann umbringen?“, flüsterte sie zitternd.
„Natürlich nicht. Wozu soll ich mir dann die ganze Mühe machen? Du verstehst nicht ganz, wenn du nicht mitkommst, gehe ich.“
Überrascht sah sie ihn an. Steven würde verschwinden? Einfach so?
„Nun, nein, das sollte ich vielleicht doch nicht. Ich bleibe noch hier. Lass uns etwas Spaß haben, mein Schatz. Vielleicht überzeugt dich das?“ Er packte mit beiden Händen ihren Kopf und drückte mit dem Daumen gegen ihre Luftröhre.
Gibbli würgte und versuchte, seine Finger wegzureißen. Diese schlossen sich um ihr Kinn und ihre Wangen, wie kleine Maschinen. Sie spürte, wie ihre Haut unter ihnen gefror. Panisch bohrten sich Gibblis Hände in seinen Arm.
„Weißt du, unsere Spezies besitzt die Gabe der Erinnerung. Wir können die emotionalsten Erinnerungen unserer Vorfahren verspüren. Ich sehe sie vor mir, als wäre es gestern gewesen. Wie sie einer nach dem anderen durch das Portal verschwinden und in ihr Verderben laufen. Wir beide haben den Feind nicht in Aktion erlebt Mädchen, aber ich trage die Erinnerung meiner Vorfahren in mir. Ihr Menschlein könnt beten, dass der Feind diese Welt niemals findet. Nun, ich bin mir sicher, du siehst etwas anderes, nicht wahr? Du bist zu jung, um weiter zurückzublicken.“
Gibbli verstand nicht, wovon er sprach, nahm seine Worte kaum noch wahr. Aber das mit den Erinnerungen hatte sie begriffen. Das war er also. Der Grund, warum sie immer wieder diese Alpträume hatte, von Mara. Warum sie immer wieder diese Erinnerung von ihr durchlebte, in der Rod … sie zwang ihre Gedanken wieder zur Kontrolle. Gibbli bekam kaum noch Luft!
„Die Frage ist nicht, ob du zu mir kommst, die Frage ist wann. Im Übrigen, wenn ich dich jetzt einfach hier zurücklasse, würdest du sterben, genau wie deine … Freunde.“ Das letzte Wort sprach er spöttisch aus, beinahe abstoßend.
Dann ließ er sie los und Gibbli taumelte einen Schritt zurück. Nach Atem ringend brachte sie mehr Abstand zwischen sich und ihm.
„W-was hast du ihnen angetan?“, schrie sie laut und versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten.
Steven richtete sich auf und verschränkte die Arme.
„Gar nichts“, sagte er fröhlich. „Ihr Menschlein vernichtet euch selbst. Ich muss sagen, dieser Jack ist mir in einigen Punkten sympathisch. Oh ja! Wenn er mich nur nicht ständig mit einem Wassermenschen verwechseln würde, könnten wir gut miteinander auskommen.“
Gibbli trat einen Schritt zurück. Jack Kranch, oberster Führer der Landmenschen und militärischer Direktor der Meeresakademie, war hier! Sie hätte ihn beinahe vergessen. Aber hatte sie nicht eben in Bo’s Körper miterlebt, dass sie ihm entkommen waren? Zusammen mit dem Mönch?
„Vergiss sie doch Mädchen“, sagte Steven und legte eine Hand erneut auf die Kugel.
Der Nebel begann sich zu verformen und nahm langsam den Umriss von vier Gestalten an. Sky, Abyss, Bo und der Mönch Andreas Guglhupf befanden sich im Inneren des MARM. Steven bewegte seinen Arm leicht auf der Kugel und das Bild änderte sich. Der MARM war jetzt von außen zu sehen und dann von noch weiter weg. Mit vor Schreck geweiteten Augen erkannte Gibbli die vielen eckigen Gebilde, zu denen sich der Nebel formte: U-Boote. Sehr viele U-Boote. Unglaublich viele U-Boote! Und nicht nur irgendwelche, sondern Kampfboote der Akademie, von denen jedes kleinste Stück der flachen Oberseite mit Waffen ausgerüstet worden war. Sie befanden sich nicht weit von ihnen entfernt und bedeckten weitläufig den Meeresboden. Im Zentrum der Flotte, bei der kleinen Kuppel, startete gerade das Beiboot der Mara.
„200 Stück“, bestätigte ihr Steven und grinste. „Wie tragisch.“
Sky und die anderen hatten keine Chance! Fieberhaft überlegte Gibbli, wie sie ihnen helfen konnte. Ihr fiel einfach nichts ein. Das waren viel zu viele! Gegen Jacks Flotte gab es nichts auszurichten. Steven würde ihr wehtun. Aber Jack würde die anderen umbringen, wenn er mit so vielen Kriegsbooten hier auftauchte! Sky und Bo. Jack würde Abyss töten! Schließlich wandte sie sich in ihrer Verzweiflung an den einzigen Mann, der die Macht besaß, etwas zu tun.
„Hilf ihnen!“, verlangte Gibbli mit fester Stimme und über sich selbst überrascht, dass sie ihm so gegenüber trat.
„Was?“ Steven sah sie belustigt an. „Hm, das könnte ich.“
Sein Anblick ließ puren Hass in ihr hochsteigen. „Rette sie!“
„Na gut. Ohne deinen blassen Riesenmensch wäre es langweilig und ich liebe es, wenn man mich um Hilfe bittet, oh ja. Wie kann ich da widerstehen?“ Er lachte, dann wurde seine Mine plötzlich ernst. „Aber das ganze hat seinen Preis, mein Schatz. Und du kennst diesen Preis. Ahh … Spürst du es? Die Kälte, die jetzt von dir ausgeht?“, fragte er zufrieden.
Gibbli nahm all ihren Mut zusammen und sprach die Worte aus, von denen sie wusste, dass sie sie bereuen würde: „Ich komme nach Ocea. Wenn du sie rettest.“
Er öffnete den Mund und wollte etwas sagen, doch sie kam ihm zuvor.
„Aber ich begleite dich nicht. Ich möchte selbst dort hin, ohne deine Hilfe“, fügte Gibbli hinzu. Wenn sie schon zu ihm kam, würde sie es so lange wie möglich hinauszögern.
„Einverstanden“, sagte Steven knapp und deutete nach vorne auf die drei Sitze. „Du weißt, wie das U-Boot funktioniert. Mara selbst ist die Waffe. Steuere auf den Feind zu, der Aufprall eines einzelnen Bootes wird Mara kaum etwas anhaben. Während du die ängstlichen Menschlein einsaugst, werde ich, heldenhaft wie ich bin, an die Front treten. Wir lenken die anderen ab.“
Er drehte sich um und wies Cora mit einem Nicken an, mit ihm zu kommen. Dann stolzierte er davon, ohne einen weiteren Blick auf sie zu werfen. Die Kind-KI folgte ihm glücklich mit den Armen rudernd.
Gibbli hastete Richtung Frontfenster in den vorderen Teil der Zentrale, während ihr Coras Küken aufmerksam folgte. Als sich Gibbli auf den mittleren Stuhl fallen ließ, hüpfte es flatternd auf ihren Schoß. Sie packte das mechanische Tier und setzte es zurück auf den Boden. Es fühlte sich ungewohnt an, hier zu sitzen. Denn dieser Platz gehörte normalerweise dem Kapitän. Mit laut klopfendem Herzen zog Gibbli die Steuergeräte um sich herum und packte die zwei Hebel an den Seiten. Bisher beschränkten sich ihre Fahrstunden auf kleine Tauchkapseln. Sie hatte erst zwei Mal so ein großes U-Boot bewegt. Das erste Mal im Steuergrundkurs, an einem Simulator. Das zweite Mal bei den Testfahrten für ihre Prüfung im Fortgeschrittenenkurs für Antriebstechnik. Es war eine Vorschrift, dass man den Antrieb mindestens einmal selbst benutzt haben musste, bevor man zugelassen wurde.
Langsam manövrierte sie die Mara aus dem Tal heraus und befand sich plötzlich mitten im Getümmel. Sofort lenkte Gibbli mehr Energie auf die Schilde. Sie hatte nicht erwartet, auch auf Hochseemenschen zu treffen. Zu Hunderten flitzten sie zwischen den U-Booten hindurch. Natürlich, dieses Gebiet gehörte ihnen. Ein kleines U-Boot wie die Mara schien für sie keine große Gefahr darzustellen, doch eine so große Flotte mit Landmenschen in ihrem Gebiet, kam einer Kriegserklärung gleich! Mit säurehaltigen Geschossen feuerten die Hochseemenschen auf die Kampfboote von Jacks Flotte und zerstörten ihre Außenhaut. Weiter entfernt blitzte ein helles Licht auf. Irgendetwas großes explodierte und erschütterte alles in der Umgebung. Kampfboote sowie Hochseemenschen gleichermaßen trieben auseinander. Gibbli spürte die Erschütterung bis in ihren Sitz und schrammte knapp an einem Fels im Boden vorbei. Stevens Werk, dachte sie grimmig, vielleicht auch das von Cora.
Es dauerte nicht lange, bis sie die Steuerung der Mara einigermaßen verstand, sie musste schließlich keine komplizierten Manöver vollbringen. Ohne weiter zu zögern, bewegte Gibbli sich auf die Kuppel des Mönchs zu. Die Mara war viel kleiner als die Kampfschiffe der Flotte und stieß unter den Hochseemenschen kaum auf Beachtung. Diejenigen, die trotzdem versuchten anzugreifen, wurden vom Schutzschild abgehalten.
Unverhofft erschien der MARM vor dem großen Frontfenster. Das Beiboot wurde von mehreren Kampfeinheiten bedroht! Eine weitere Explosion erschütterte das Gebiet. Zwei der angreifenden Boote zogen sich zurück und fuhren auf die Explosion zu. Nur eines von Jacks U-Booten blieb zurück. Gibbli zögerte nicht lange und steuerte die Mara direkt darauf zu. Sie rammte es mit voller Wucht.
Obwohl es viel größer war als die Mara, spürte Gibbli kaum etwas von dem Zusammenprall. Das U-Boot brach mitten entzwei. Luftblasen zischten heraus und schlängelten sich Richtung Wasseroberfläche. Ein absplitternder Brocken traf den MARM. Das kleine Beiboot wurde durch den Aufprall zur Seite geschleudert, schien jedoch keinen Schaden erlitten zu haben. Bevor es irgendwo dagegen prallte, bekam Sky es wieder unter Kontrolle. Er war wirklich der beste Steuermann, den Gibbli je getroffen hatte!
Nach ein paar Minuten schaffte er es in dem Durcheinander, an die Mara anzudocken.
Währenddessen manövrierte Gibbli die Mara weiter an den Rand der Schlacht. Dann riss sie die Bedienelemente der Steuerung beiseite, sprang auf und rannte hoch in den oberen Teil der Zentrale. Sie erreichte das Schleusentor zum MARM, als dieses sich gerade öffnete. Vor ihr stand Abyss und starrte sie an. Mit Zornesfalten im Gesicht und geröteten Flecken unter den Augen sah er aus, als würde er gleich jemanden umbringen. So wütend hatte Gibbli ihn noch nie erlebt!
Ehe sie zurückweichen konnte, schubste er sie mit aller Kraft beiseite. Ihre Schulter krachte gegen die Sitzbank des runden Tisches und Gibbli schrie vor Schmerz auf. Abyss warf ihr einen gefährlich aussehenden Gegenstand vor die Füße, dann stapfte er wortlos an ihr vorbei.
Was war in ihn gefahren? Verängstigt rieb sie sich die Schulter und betrachtete das spitze Werkzeug. Es handelte sich um die Handstichsäge, die gestern irgendwann aus ihrer Tasche verschwunden war. An der beidseitig gezackten Klinge klebten Hautfetzen und Blut.
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