Gibbli schreckte hoch. Sie musste kurz eingenickt sein. Ein seltsamer Traum war das, sie hatte noch nie die Oberfläche gesehen. Nach der Flucht vor Somal und Kor fand sie sich in einem großen Komplex wieder, der sich zwischen dem Bahnhof des Meeresexpresses und den Gebäuden der biologischen Tierstation erstreckte. Hier beinhalteten meterhohe Regale, die sich auf mehrere Stockwerke verteilten, unzählige Stecker und elektronische Buchplatten. Doch es war nicht die öffentlich zugängliche Bibliothek, die sie immer wieder anzog, sondern die gesperrten Lagerhallen, die sich darunter befanden: Das verbotene Archiv.
Das Umgehen der Türverriegelungen war für Gibbli ein Kinderspiel. Ehrfurchtsvoll schlich sie die hohen Gerüstreihen entlang, während sie ihr EAG als Taschenlampe vor sich erhob. Niemand durfte sich hier aufhalten, nicht einmal die Soldaten der Elite. Einzig ausgewählte Archäologen hatten für jeweils kurze Zeit die Erlaubnis, diese Hallen zu betreten und das auch nur, um das jeweilige Fundstück hier zu deponieren. An den Artefakten zu forschen, war strengstens verboten. Hier bewahrten die Landmenschen ihre, in Gibblis Augen, bedeutendsten Funde überhaupt auf. Dieser Ort war ein Museum der ganz besonderen Art. Eine goldene Grabstätte für oceanische Gegenstände, deren zerstörerische Macht für immer hinter verschlossener Tür bleiben sollte. Gibbli kannte jedes Staubkorn hier. Sie brach seit vielen Jahren immer wieder ins Archiv ein und hatte so gut wie alles davon gesehen. Nicht, dass sie die Sprache der Oceaner je begriffen hätte, dennoch war es ihr gelungen, die Technologie einiger hier lagernder Maschinen für sich zu nutzen. Hier fühlte sie sich wohl. Hier genoss sie ihre Ruhe. Hier konnte sie ihrem Drang nachgehen, all die faszinierenden Kräfte zu erforschen.
Sie schlenderte an einem gigantischen Bruchstück vorbei und fuhr dabei mit dem Finger an einer darin enthaltenen Gravur entlang. Die Rillen leuchteten leicht auf und erloschen wieder. Die ihr so fremden und gleichzeitig vertrauten Schriftzeichen begeisterten sie immer wieder aufs Neue. Es war nicht ungefährlich, mit dieser Art von Technologie zu experimentieren. Dennoch fand Gibbli sie so viel aufregender als die der Landmenschen. Man musste nur immer gut aufpassen, was man dachte. Die Kommunikation über niederfrequente Gehirnwellenmuster stellte offenbar einen Grundpfeiler oceanischer Physik dar. Gibbli hatte heimlich Experimente an Mitschülern durchgeführt. Erstaunlicherweise schien niemand von ihnen die erforderliche Anzahl an Neurotransmitter abzusondern, welche nötig war, um die Schnittstellen der kleinen Maschinen hier im Archiv ansprechen zu können. Gibbli hingegen war dazu in der Lage. Natürlich nicht immer und nicht bei jedem Gerät. Manche Gegenstände wurden so heiß, wenn sie diese berührte, dass sie sich die Finger verbrannte. Andere bewegten sich gar nicht. Doch ein paar wenige ließen sich mit ihren Gedanken steuern. Gibbli liebte es, einzelne Fundstücke zu zerlegen und diese neu zusammenzubauen. Meistens hatte sie vorher keine Ahnung, was dabei rauskam, es machte ihr einfach Spaß, damit zu spielen. Bei ihren beiden murmelgroßen Fluggeräten war ihr die Anpassung auf ihre eigenen Denkmuster besonders gut gelungen. Deswegen bedauerte sie den Verlust einer ihrer beiden Schätze sehr.
Ein überraschendes Geräusch riss sie aus ihren Gedanken. Leise Schritte drangen durch die Halle und kamen langsam näher. Schnell schaltete Gibbli ihre Lampe aus und erkannte den schwachen Schein eines anderen EAGs, nicht weit von ihr entfernt. Hatten die Soldaten sie etwa gefunden? Unmöglich, die durften hier nicht rein! Niemand durfte das und nachts kamen auch keine Archäologen her. Es musste ein Eindringling sein.
„Wo bist du?“, murmelte der Mann jetzt ganz in ihrer Nähe.
Hastig tastete sich Gibbli um die Ecke eines Gerüsts herum. Im nächsten Moment streifte ein Lichtstrahl ihren Stiefel. Sie wich blitzartig zurück. Hoffentlich hatte er sie nicht gesehen!
Sie stand jetzt hinter einem Vorsprung des goldenen Bruchstücks einer Maschine und traute sich kaum, sich zu bewegen. Nur ein kleines Geräusch und er würde sie sofort bemerken.
Der Strahl seines EAGs leuchtete knapp an ihr vorbei.
„Es steht in der Inventardatei. Die Aufzeichnungen scheinen fehlerhaft zu sein.“
Woher kannte sie diese extrem tiefe Stimme? Gibbli drückte sich tiefer in die Schatten. Der, dem sie gehörte, konnte das eigentlich nicht sein. Er würde niemals das Gesetz brechen. Andererseits, wenn er es tatsächlich war und sie hier erwischte, dann konnte sie ihren Abschluss vergessen. Eigentlich ihr ganzes Leben. Es kam ihr nahezu lächerlich vor, sich vorzustellen, wie der zweite Führer sie höchst persönlich verhaftete. Träumte sie vielleicht wieder?
„Ich habe die Karte, aber wo ist dieses Marahang?“, drang seine raue Stimme wieder durch die Regalreihe und riss sie aus ihren Gedanken. „Ich kann es nicht finden. Falls es nicht da ist, wird sich ein anderer Schlüssel finden müssen. Ich ziehe das durch, für Letitia. Logbucheintrag Ende.“
Er schaltete etwas an seinem EAG ab und ging dann langsam weiter. Offensichtlich suchte er etwas. Gibbli hatte noch nie von einem Marahang gehört. Verdammt, er kam noch näher auf sie zu! Jetzt konnte sie schon seinen Umriss wahrnehmen. Das war definitiv der Mann, der in ein paar Jahren ihr Vorgesetzter werden sollte! Seine muskulöse Statur in der Uniform und die nach hinten gebundenen Haare waren unverwechselbar. Unter seinem Arm blitzte etwas Goldenes auf und Gibbli erkannte darin sofort die runde Scheibe. Ganz sicher handelte es sich um diese Karte. Sie hatte das neue Fundstück erst bei ihrem letzten Einbruch entdeckt. Auf dem beigelegten Log stand, dass die Archäologen es in der Nähe der Küste fanden, auf halbem Weg zur ersten Unterwasserstadt des Landmenschengebietes. Was wollte er mit diesem Ding? Es war verboten hier etwas mitzunehmen, überhaupt durften sich nicht einmal die Flottenführer hier aufhalten oder auch nur irgendetwas im Archiv genauer ansehen.
Gibbli hielt den Atem an, als der Mann unweit an ihr vorbei schlich. Sogar in der Dunkelheit strahlte die Art wie er sich bewegte eine Bestimmtheit aus, die jeden in seiner Nähe erschaudern ließ. In der Akademie hielt sich das Gerücht, dass insgeheim er die Landmenschen führte, nicht Jack. Der oberste Flottenführer bog in einen anderen Gang ab.
Vorsichtig atmete sie so lautlos wie möglich aus. Sie musste hier weg, sofort!
Das Umgehen der Türverriegelungen war für Gibbli ein Kinderspiel. Ehrfurchtsvoll schlich sie die hohen Gerüstreihen entlang, während sie ihr EAG als Taschenlampe vor sich erhob. Niemand durfte sich hier aufhalten, nicht einmal die Soldaten der Elite. Einzig ausgewählte Archäologen hatten für jeweils kurze Zeit die Erlaubnis, diese Hallen zu betreten und das auch nur, um das jeweilige Fundstück hier zu deponieren. An den Artefakten zu forschen, war strengstens verboten. Hier bewahrten die Landmenschen ihre, in Gibblis Augen, bedeutendsten Funde überhaupt auf. Dieser Ort war ein Museum der ganz besonderen Art. Eine goldene Grabstätte für oceanische Gegenstände, deren zerstörerische Macht für immer hinter verschlossener Tür bleiben sollte. Gibbli kannte jedes Staubkorn hier. Sie brach seit vielen Jahren immer wieder ins Archiv ein und hatte so gut wie alles davon gesehen. Nicht, dass sie die Sprache der Oceaner je begriffen hätte, dennoch war es ihr gelungen, die Technologie einiger hier lagernder Maschinen für sich zu nutzen. Hier fühlte sie sich wohl. Hier genoss sie ihre Ruhe. Hier konnte sie ihrem Drang nachgehen, all die faszinierenden Kräfte zu erforschen.
Sie schlenderte an einem gigantischen Bruchstück vorbei und fuhr dabei mit dem Finger an einer darin enthaltenen Gravur entlang. Die Rillen leuchteten leicht auf und erloschen wieder. Die ihr so fremden und gleichzeitig vertrauten Schriftzeichen begeisterten sie immer wieder aufs Neue. Es war nicht ungefährlich, mit dieser Art von Technologie zu experimentieren. Dennoch fand Gibbli sie so viel aufregender als die der Landmenschen. Man musste nur immer gut aufpassen, was man dachte. Die Kommunikation über niederfrequente Gehirnwellenmuster stellte offenbar einen Grundpfeiler oceanischer Physik dar. Gibbli hatte heimlich Experimente an Mitschülern durchgeführt. Erstaunlicherweise schien niemand von ihnen die erforderliche Anzahl an Neurotransmitter abzusondern, welche nötig war, um die Schnittstellen der kleinen Maschinen hier im Archiv ansprechen zu können. Gibbli hingegen war dazu in der Lage. Natürlich nicht immer und nicht bei jedem Gerät. Manche Gegenstände wurden so heiß, wenn sie diese berührte, dass sie sich die Finger verbrannte. Andere bewegten sich gar nicht. Doch ein paar wenige ließen sich mit ihren Gedanken steuern. Gibbli liebte es, einzelne Fundstücke zu zerlegen und diese neu zusammenzubauen. Meistens hatte sie vorher keine Ahnung, was dabei rauskam, es machte ihr einfach Spaß, damit zu spielen. Bei ihren beiden murmelgroßen Fluggeräten war ihr die Anpassung auf ihre eigenen Denkmuster besonders gut gelungen. Deswegen bedauerte sie den Verlust einer ihrer beiden Schätze sehr.
Ein überraschendes Geräusch riss sie aus ihren Gedanken. Leise Schritte drangen durch die Halle und kamen langsam näher. Schnell schaltete Gibbli ihre Lampe aus und erkannte den schwachen Schein eines anderen EAGs, nicht weit von ihr entfernt. Hatten die Soldaten sie etwa gefunden? Unmöglich, die durften hier nicht rein! Niemand durfte das und nachts kamen auch keine Archäologen her. Es musste ein Eindringling sein.
„Wo bist du?“, murmelte der Mann jetzt ganz in ihrer Nähe.
Hastig tastete sich Gibbli um die Ecke eines Gerüsts herum. Im nächsten Moment streifte ein Lichtstrahl ihren Stiefel. Sie wich blitzartig zurück. Hoffentlich hatte er sie nicht gesehen!
Sie stand jetzt hinter einem Vorsprung des goldenen Bruchstücks einer Maschine und traute sich kaum, sich zu bewegen. Nur ein kleines Geräusch und er würde sie sofort bemerken.
Der Strahl seines EAGs leuchtete knapp an ihr vorbei.
„Es steht in der Inventardatei. Die Aufzeichnungen scheinen fehlerhaft zu sein.“
Woher kannte sie diese extrem tiefe Stimme? Gibbli drückte sich tiefer in die Schatten. Der, dem sie gehörte, konnte das eigentlich nicht sein. Er würde niemals das Gesetz brechen. Andererseits, wenn er es tatsächlich war und sie hier erwischte, dann konnte sie ihren Abschluss vergessen. Eigentlich ihr ganzes Leben. Es kam ihr nahezu lächerlich vor, sich vorzustellen, wie der zweite Führer sie höchst persönlich verhaftete. Träumte sie vielleicht wieder?
„Ich habe die Karte, aber wo ist dieses Marahang?“, drang seine raue Stimme wieder durch die Regalreihe und riss sie aus ihren Gedanken. „Ich kann es nicht finden. Falls es nicht da ist, wird sich ein anderer Schlüssel finden müssen. Ich ziehe das durch, für Letitia. Logbucheintrag Ende.“
Er schaltete etwas an seinem EAG ab und ging dann langsam weiter. Offensichtlich suchte er etwas. Gibbli hatte noch nie von einem Marahang gehört. Verdammt, er kam noch näher auf sie zu! Jetzt konnte sie schon seinen Umriss wahrnehmen. Das war definitiv der Mann, der in ein paar Jahren ihr Vorgesetzter werden sollte! Seine muskulöse Statur in der Uniform und die nach hinten gebundenen Haare waren unverwechselbar. Unter seinem Arm blitzte etwas Goldenes auf und Gibbli erkannte darin sofort die runde Scheibe. Ganz sicher handelte es sich um diese Karte. Sie hatte das neue Fundstück erst bei ihrem letzten Einbruch entdeckt. Auf dem beigelegten Log stand, dass die Archäologen es in der Nähe der Küste fanden, auf halbem Weg zur ersten Unterwasserstadt des Landmenschengebietes. Was wollte er mit diesem Ding? Es war verboten hier etwas mitzunehmen, überhaupt durften sich nicht einmal die Flottenführer hier aufhalten oder auch nur irgendetwas im Archiv genauer ansehen.
Gibbli hielt den Atem an, als der Mann unweit an ihr vorbei schlich. Sogar in der Dunkelheit strahlte die Art wie er sich bewegte eine Bestimmtheit aus, die jeden in seiner Nähe erschaudern ließ. In der Akademie hielt sich das Gerücht, dass insgeheim er die Landmenschen führte, nicht Jack. Der oberste Flottenführer bog in einen anderen Gang ab.
Vorsichtig atmete sie so lautlos wie möglich aus. Sie musste hier weg, sofort!